Seit Wochen protestieren in der Türkei Menschen gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Er war am 19. März im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen festgenommen worden und sitzt derzeit im Silivri-Gefängnis nahe Istanbul.
Ein Ende der Massen-Demonstrationen ist derzeit nicht in Sicht, auch wenn die Teilnahmezahlen zuletzt zurückgingen. Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, hat weitere Protest-Aktionen für die Freilassung des inhaftierten CHP-Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu angekündigt. Unter anderem werde seine Partei am Sonntag eine Versammlung in der Schwarzmeer-Stadt Samsun abhalten, sagte Özel.
Der Ort hat eine besondere Bedeutung: Dort erhielt Präsident Erdoğan bei den Wahlen 2023 noch 62 Prozent der Stimmen. Doch Samsun war zugleich der Ausgangspunkt für Republikgründer Atatürk, um im Jahr 1919 den Befreiungskrieg zu starten. İmamoğlu galt bislang als aussichtsreichster Kandidat gegen Erdoğan bei der nächsten Wahl.
Immer mehr Personen des öffentlichen Lebens in der Türkei äußern nach İmamoğlus Festnahme ihren Unmut. Für die mächtige Partei des Präsidenten wird es ungemütlich: Laut jüngsten Umfragen liegt die AKP inzwischen hinter der CHP, der auch Ekrem İmamoğlu angehört.
Laut einer Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Konda befürworten 73 Prozent der Befragten in der Türkei die Proteste gegen die Inhaftierung İmamoğlus. In Deutschland ist der Rückhalt für das Vorgehen Erdoğans bei Menschen mit türkischen Wurzeln allerdings traditionell hoch.
Der Überzeugte
"In der Türkei wird niemand ohne Grund festgenommen", ist Fatih B. aus Bottrop überzeugt. Außerdem sei der Istanbuler Bürgermeister aus den Reihen der eigenen Partei CHP angezeigt worden. So jedenfalls habe er es aus türkischen Medien erfahren. Dass Präsident Erdoğan die Verhaftung angeordnet habe, um einen Widersacher auszuschalten, hält Fatih B. für "absurd".
"Ich bin kein bedingungsloser Erdoğan-Fan", stellt der 21-Jährige klar, der General Management studiert und engagierter Boxsportler ist. Erdoğan habe aber die Türkei nun mal in den vergangenen 30 Jahren weit nach vorne gebracht - "im Gesundheitswesen, in der Bildung und auch was die Freiheit unterdrückter Völker angeht". Ein Bild, das viele Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland teilen.
Laut internationalen Nachrichtenagenturen wurden bei den Protesten gegen die Inhaftierung İmamoğlus zeitweise mehrere hundert Studierende und mehr als ein Dutzend Journalisten festgenommen. Einige hätten dabei die Polizisten mit Säure angegriffen, so Fatih B.'s Beobachtungen in sozialen Netzwerken. Ob es solche Vorfälle gab, lässt sich allerdings auf Grundlage der internationalen Berichterstattung nicht verifizieren.
"Nachrichten werden überall auf der Welt gelenkt", glaubt er. So zitierten deutsche Medien ausschließlich CHP-nahe türkische Medien, deutsche Politiker mit türkischen Wurzeln seien "immer gegen Erdoğan". Er frage sich, "was da wo verdreht wird". Eins sei aber klar: "Sollten bei den Protesten in Istanbul Menschen unschuldig festgenommen worden sein, bin ich dagegen."
Die Kritikerin
Neben den überzeugten Anhängern Erdoğans formiere sich aber auch innerhalb der türkischstämmigen Migranten-Community in Deutschland Protest, sagt Selin Günaydin, Mitglied im CDU-Stadtverband Werl. Vor allem bei Studierenden, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, aber auch bei Nachfahren der Einwanderer in akademischen Berufen. "Es ist vor allem eine Frage der Bildung", sagt Günaydin, "und des familiären Hintergrunds".
Viele konservative Familien seien von einem "politischen Islam" geprägt, den vor allem Erdoğan vertrete. "Das ist eine Art Nationalstolz, und jeder, der gegen Erdoğan ist, wird zum Staatsfeind erklärt." Vergleichbar sei das "mit einem Fußballverein, den man unerschütterlich anfeuert".
Deren Überzeugung sitze sehr tief, hat Günaydin festgestellt, "die meisten lassen überhaupt nicht mit sich reden". Vor allem aus Sicht der Kommunalpolitikerin - die Studentin kandidiert für den Stadtrat in Werl - mache sie sich Sorgen: Die Kluft zwischen Erdoğan-Anhängern und -Gegnern sei riesig. Sie spalte die migrantische Community, "sie überträgt sich auf die Straße". Dabei sollten die Bürger ihrer Stadt doch "an einem Strang ziehen", um Dinge gemeinsam zu verbessern.
Vom Erdoğan-Anhänger zum Kritiker
Einer der wenigen aus dieser Community, die sich vom einstigen Erdoğan-Anhänger zum entschiedenen Kritiker gewandelt haben, ist Bünyamin Yilmaz, Handelsfachwirt aus Bad Honnef. Der 23-Jährige tritt dort im September parteilos zur Bürgermeisterwahl an. Auch er wuchs mit dem bedingungslosen Glauben an Erdoğans AKP-Partei auf.
Erste Zweifel seien ihm 2016 gekommen, als in der Türkei ein gescheiterter Putschversuch gegen die Regierung brutal niedergeschlagen wurde. Da war Yilmaz 15 und ging in Bad Honnef aufs Gymnasium.
"Man hat sich damals immer nur eine Seite angehört - die der Älteren - ohne sie zu hinterfragen", erinnert er sich. Als die erste Wahl İmamoğlus zum Istanbuler Bürgermeister wegen angeblicher Wahlmanipulation für ungültig erklärt wurde, seien seine Zweifel gewachsen. "Die harte Wende" aber brachte für ihn das schwere Erdbeben in der Türkei 2023: Yilmaz fuhr mit seiner selbstgegründeten Hilfsorganisation "Haydi Komm" in die Türkei, um den Opfern zu helfen. "Da habe ich gesehen, was dort wirklich passiert war."
Kollabiert waren vor allem Häuser, die ohne Genehmigung von Baufirmen errichtet worden waren, die gute Beziehungen in die Politik hatten. Ungläubig beobachtete der damals 21-Jährige, dass es offenbar kaum Strafverfolgung für die Verantwortlichen gab, viele seien noch immer auf ihren Posten.
Auch er stellt heute mit Staunen fest, "wie hart die türkische Regierung in den Köpfen der Menschen hier in Deutschland eindringt". Sehr viele seien "gar nicht mehr offen dafür, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen". Gesprächsbereitschaft erlebe auch er so gut wie gar nicht. Stattdessen würden sich Mitglieder der türkischstämmigen Community sogar gegenseitig denunzieren - auf Apps, die die türkische Regierung "zur Bekämpfung von Cyberkriminalität oder Terrorismus" bereitstelle.
Für ihn stehe fest: İmamoğlu wurde von Millionen Menschen gewählt, die ihm ihr Vertrauen geschenkt hätten. Dieses Vertrauen dürfe nicht enttäuscht werden.
Wieder Proteste in der Türkei: Was bringen sie?. WDR Studios NRW. 13.04.2025. 00:56 Min.. Verfügbar bis 13.04.2027. WDR Online.
Unsere Quellen:
- Gespräch mit Selin Günaydin, Mitglied im CDU-Stadtverband Werl
- Gespräch mit Bünyamin Yilmaz, Handelsfachwirt aus Bad Honnef
- Gespräch mit Fatih B., Student aus Bottrop
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP
Kommentare zum Thema
warum sind die Erdogan Fans alle hier und nicht in der Türkei wenn da alles so toll ist? Diese Frage beantwortet keiner?
Ich finde es sehr,sehr schade, dass Erdogan durch diese Festnahme seinen wirklich guten Ruf, den er sich über 3 Jahrzehnte erworben hat, in so kurzer Zeit s e l b e r kaputt macht. Er wird aufgrund seines Alters ja nicht mehr lange regieren können, umso wichtiger sollte es ihm sein, dass er einen guten Rückzug hinbekommt. Er hat wirklich viel für die Türkei getan - und das sollte eigentlich im Vordergrund stehen - und keine ungerechtfertigte Festnahme.
Wie kann man so etwas schreiben. Ein Diktator erster Güte und dann wird gesagt er hat viel getan. Er hat sich die Taschen vollgestopft, politische Gegner verfolgt und gefoltert. Er gehört ins Gefängnis mitsamt seiner Sippschaft.
Wo bleibt eigentlich das "Machtwort" der noch feministischen Außenmeisterin? Ansonsten glaube ich nicht das sich Lieschen Schmitz oder Peter Müller so sehr Gedanken um Ereignisse in der Türkei machen. Probleme haben wir selber genug, auch hier in NRW.
Stimmt, ich mache mir keine Gedanken um die Ereignisse in der Türkei. Der Präsident ist gewählt worden und wie ein Teil von NRW drauf schaut, sieht man immer vor Wahlen, wenn er an das Deutzer Ufer kommt und seine Anhänger massenhaft jubeln. Deshalb frage ich mich schon, warum im WDR so ein Bohei um die Ereignisse gemacht wird. Es gäbe genügend Gründe, hier mal nachzusehen was im Argen liegt.