"Trügerische Anziehung" von Eshkol Nevo

Stand: 12.06.2024, 07:00 Uhr

Der bekannte israelische Schriftsteller lotet einmal mehr zwischenmenschliche Untiefen aus, mit Akzent auf der Subjektivität individueller Erzählung. Die drei Erzählungen in "Trügerische Anziehung" sind einfallsreich, tiefgründig und dabei doch leger. Eine Rezension von Moritz Holler.

Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung
Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch.
dtv, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.

"Trügerische Anziehung" von Eshkol Nevo Lesestoff – neue Bücher 12.06.2024 05:39 Min. Verfügbar bis 12.06.2025 WDR Online Von Moritz Holler

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Wahrheit ist oft keine absolute Größe, sondern eine höchst persönliche Angelegenheit, das zeigt uns Eshkol Nevo. In "Trügerische Anziehung" lotet er einmal mehr zwischenmenschliche Untiefen aus, der Akzent liegt auf der Subjektivität individueller Erzählung. Drei Mal wählt Nevo die Ich-Perspektive, um in sehr unterschiedliche Protagonisten zu schlüpfen.

Musiker Omri etwa begegnet auf einer Reise ein israelisches Pärchen. Er und die Frau namens Mor finden sich auf Anhieb sympathisch, gar anziehend. Nach einer überraschenden nächtlichen Begegnung trennen sich ihre Wege. Zurück in Israel liest Omri in der Zeitung vom tragischen Unfall des Ehemannes. Er besucht Mor auf der Trauerfeier, von der sie zu zweit türmen, um dann bei Bekannten unterzukommen.

"Mor war binnen Sekunden eingeschlafen. Ich hatte ihre Gesichtszüge noch nie entspannt gesehen. Immer hatte sie eine Mimik: Die Aufmerksame. Die Verführerische. Die Nachdenkliche. Die Fokussierte. Ich konnte sie mir bestens als Schauspielerin vorstellen. […] Ich schmiegte mich an sie. Oft heißt es: Ich spürte die Wärme ihres Körpers. Doch jetzt spürte ich die Kälte ihres Körpers."

Es mehren sich Zweifel an Mors Version der Geschehnisse. Benutzt sie Omri oder erwidert sie seine Gefühle? Bald fügen sich die Mosaikstücke zu einem fatalen Gesamtbild zusammen.

Alle drei in "Trügerische Anziehung" versammelten Erzählungen ähneln Geständnissen, weisen also emotionale Dringlichkeit und narrative Dichte auf, sowie auch einen manipulativen Aspekt – den Wunsch zu überzeugen. Die Erzählungen gleichen Irrgärten, freie Sicht gibt es nur bis zur nächsten Biegung.

Durch das stetige Hinzufügen von Informationen wirkt die Wahrheit hier fluid und flüchtig. Sie entsteht permanent neu. So betont Nevo die Unübersichtlichkeit der Ereignisse, die dynamischen Verstrickungen der Figuren, wie auch ihre Unzulänglichkeit, sich daraus zu befreien. Kunstvoll in literarische Gefilde überführt, ergibt sich so ein Spiel um Andeutungen, um Erwartungen und Ungewissheiten. Dem Lesesog kann man sich nicht entziehen, denn Nevo beherrscht sein Erzählhandwerk aus dem Effeff. Unter seiner dezenten Feder wird die Handlung biegbar wie Bambus.

Auch in der zweiten Erzählung verfällt ein Mann einer jüngeren Frau (und fällt). So nimmt der verwitwete Oberarzt Ascher die angehende Fachärztin Liat unter seine Fittiche. Nachdem ihr dann vom Stationsschwerenöter übel mitgespielt wurde, steht sie eines Abends vor Aschers Tür. Nach Plausch und Drink legt sie sich zum Ausruhen aufs Sofa. Ein väterliches Streicheln mutiert zum Grapsch-Skandal.

"Da bewegte sie sich. Vielleicht war sie bereits am Einschlummern. […] Jedenfalls kam die Bewegung so unerwartet, dass meine Hand, die gerade noch ihren Kopf berührt hatte, unterhalb des Schlüsselbeins landete, nah am Ausschnitt ihrer Bluse. Und mir scheint, das heißt, es kann sein, dass mein kleiner Finger ihre Brust streifte. Rasch zog ich die Hand weg. Sie schlug die Augen auf, fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und zischte: Was soll das?"

Unnötig anzumerken, dass auch hier die Dinge schließlich anders liegen, als es zunächst den Anschein hat.

Eshkol Nevo bringt dem Leser auch das außergewöhnliche Land Israel näher. Ständige Bedrohungen und Kriegserfahrungen, die intakte Zivilgesellschaft. Wir begegnen hier leidenschaftlichen Menschen, weltläufig, reflektiert, lebensbejahend. Dass das Unerwartete jederzeit über ihrem Alltag hereinbrechen kann, verdeutlicht die dritte Erzählung. Darin thematisiert Nevo eigentlich Gender. Doch durch das bloße Setting – ein Ehemann verschwindet auf einem Trance-Festival in der Natur – bekommt sie eine unheimliche, fast prophetische Bedeutung hinsichtlich der Hamas-Massaker.

Fieberhaft durchsuchen Frau und Tochter seinen Nachlass in der Hoffnung auf Hinweise über sein Verbleiben. Seinen im Internet veröffentlichten Texten scheint dabei Bedeutung zu zukommen. Einer davon liest sich wie ein flammendes Plädoyer für das Leben im Hier und Jetzt.

"Wenn brechen, dann Regeln. Wenn setzen, dann die Segel. Wenn überwinden, dann Zäune. Wenn realisieren, dann Träume. Wenn schließen, dann Frieden. Wenn Frieden, dann jetzt. Wenn leben, dann lieben."

Unter der makellosen Oberfläche von "Trügerische Anziehung" warten tiefgründige Fragen, verschlungene Mehrdeutigkeiten und komplexe Figuren. Dank der tollen Übersetzung von Ulrike Harnisch liest sich dieser Band äußerst geschmeidig, obwohl er zeigt, wie grausam und wie wunderbar das Leben sein kann.