"Schlafen" von Teresia Enzensberger

Stand: 14.06.2024, 07:00 Uhr

Ein Buch über Schlaflosigkeit, Zähneknirschen und den Kapitalismus. Theresia Enzensberger streift philosophisch und ganz persönlich durch das Thema Schlaf. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Theresia Enzensberger: Schlafen
Hanser Berlin, 2024.
112 Seiten, 20 Euro.

"Schlafen" von Theresia Enzensberger Lesestoff – neue Bücher 14.06.2024 04:40 Min. Verfügbar bis 14.06.2025 WDR Online Von Andrea Gerk

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Schlaflosigkeit ist ein prägnantes Symptom unserer rastlosen Gesellschaft. Allein zwischen 2010 und 2017 sind die Schlafstörungen unter den über 35-jährigen Berufstätigen laut einer Studie der DAK um 66 Prozent gestiegen. Auch die Schriftstellerin Theresia Enzensberger leidet seit Jahren darunter:

"Meine Schlaflosigkeit ist ein Tunnel. Entgegen jeder Empfehlung von Experten der Schlafhygiene bleibe ich liegen, im Warmen, die Augen geschlossen. Ich komme nicht mehr an die Oberfläche."

Enzensberger bleibt liegen, andere gehen in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken, wieder andere lesen oder schreiben ein paar Zeilen Weltliteratur, wie Franz Kafka, aus dessen Tagebüchern die Autorin das Folgende zitiert:

"Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl, gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen."

Schlaflosigkeit ist ein großes Thema in der Literatur, die Theresia Enzensberger in ihrem facettenreichen Essay ebenso zitiert, wie sie Ausflüge in die Popkultur, in die Forschung und in die politische Theorie unternimmt. Warum schlafen wir immer schlechter, obwohl es uns doch immer besser geht, fragt sie und geht den gesellschaftspolitischen Dimensionen des Schlafes nach. Weil Schlaf das bedeutsamste Instrument zur Wiederherstellung der Leistungs- und damit Arbeitsfähigkeit ist, wird er normiert, kontrolliert und moralisiert:

"Wer zu lang oder am Nachmittag schläft, gilt als faul und dekadent; auszuschlafen ist ein unerhörter Luxus, den man sich erarbeiten muss und Frühaufsteher sind dementsprechend vorbildlich und produktiv."

Eine millionenschwere Schlafindustrie, mit Apps, White-Noise-Apparaturen und bunten Ohrstöpseln, will diesen normativen Schlaf optimieren; Probleme mit Schlaflosigkeit werden dadurch aber individualisiert – wir sollen sie wegmeditieren oder medikamentieren, anstatt über ihre gesellschaftlichen Ursachen nachzudenken beziehungsweise diese womöglich zu verändern.

Dabei sind die volkswirtschaftlichen Kosten von Schlafstörungen hoch, denn kaum etwas anderes lässt das Risiko für Herzinfarkt, Diabetes, Übergewicht und Schlaganfälle derart in die Höhe schnellen. So erstaunlich es auch ist, dass der Kapitalismus diese Kosten achselzuckend in Kauf nimmt, führt Enzensberger aus, scheinen uns noch andere Aspekte davon abzuhalten, unserem Bedürfnis nach Schlaf und Erholung nachzugehen:

"Der Schlaf bedeutet für uns alle einen Kontrollverlust. Die Angst davor ist so universell, dass sie überall auftaucht: In der Literatur, in der Kunst und im großen Sammelbecken des kollektiven Unterbewusstseins, der Polkultur. Der Zombie ist die vielleicht direkteste Repräsentation des Zwischenreichs, in dem sich ein Schlafwandler befindet."

Nach den drei Zyklen, die wir im Schlaf durchlaufen, hat Theresia Enzensberger auch ihr Buch aufgebaut. Während sie in der Phase des "Leichten Schlafs" den Kapitalismus betrachtet, geht es im "Tiefschlaf" um die kulturelle Verarbeitung des Phänomens, aber auch um die verstörenden Zwischenreiche des Bewusstseins, wie die "Sleepwalking Defense", auf die sich Täter von Verbrechen berufen, um auf ihre Unschuld zu pochen.

Den Schluss bildet der REM- oder Traum-Schlaf, also jene Phase, in der wir alle unbewusst zu Geschichtenerzählern werden, weshalb Theresia Enzensberger hier eine alptraumhafte Geschichte erzählt. Ein sehr vielschichtiges, erhellendes und immer wieder überraschendes Buch.