"Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen" von Dana Grigorcea

Stand: 10.06.2024, 07:00 Uhr

Ein Künstlerleben in Ligurien und in New York. "Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen" ist der wundersam leichte Roman der Schriftstellerin Dana Grigorcea. Eine Rezension von Simone Hamm.

Dana Grigorcea: Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
Penguin, 2024.
224 Seiten, 24 Euro.

"Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen" von Dana Grigorcea Lesestoff – neue Bücher 10.06.2024 05:09 Min. Verfügbar bis 10.06.2025 WDR Online Von Simone Hamm

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Ausgestattet mit einem großzügigen Stipendium reist Dora mit ihrem achtjährigen Sohn Loris und dem Kindermädchen nach Ligurien, in ein Hotel am Meer. Sie versteckt das Handy im Hotelsafe, verbietet es sich, sich nach dem Liebhaber zu sehnen, den sie doch so gern um sich hätte, sitzt auf dem Balkon in der Frühlingssonne, widmet sich ganz ihrem neuen Roman. Sie hat sich ein großes Thema vorgenommen:

"Sie wollte sich nicht an Modethemen halten, Herkunft, Traumata, kultivierte Exotismen, sondern geradewegs zum Eigentlichen gelangen, zum Sinn der Kunst. Wozu Kunst? Inwiefern speiste sich die Kunst aus dem Leben – und was gibt die Kunst dem Leben zurück?"

Das Leben am Meer ist reine Idylle. Strandspaziergänge, unbefangene Gespräche, der Liebhaber taucht auf, und das Schreiben geht leicht von der Hand.

"Wörter flogen ihr zu, Sätze, Rhythmen. Sie schrieb sich in einen Rausch – ein schneller Tanz, in heimlicher Freude über ihre Allmacht, jeden Akkord und auch jeden Schritt in diesem Raum vorherbestimmt zu haben."

Spätestens jetzt wird klar, dass Dana Grigorcea in ihrem Roman „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ mit den Erwartungen der Leser spielt, soviel kitschige Idylle, soviel reines Schreiben kann es gar nicht geben.

Dana Grigorcea führt eine zweite Zeitebene ein. Der Roman, den ihre Protagonistin Dora schreibt, spielt hundert Jahre zuvor. Natürlich auch in den Kunstszene, und zwar im New York der Roaring Twenties, auf der Tanzfläche, in Kinosälen, auf Empfängen, in kleinen Hotelzimmern und im Salon der exzentrischen Tochter des Galeristen, die ihr Gesicht schneeweiß pudert und eine lebendige Schlange um den Hals trägt.

Der Bildhauer Constantin Avis ist nach New York gekommen. Er will dort mit seinem Galeristen über eine große Einzelausstellung sprechen. Dass dieser Galerist verstorben ist, weiß er noch nicht. An der Grenze wird Avis zunächst festgehalten. Seine Skulptur "Der Flug eines Vogels" soll er verzollen. Das sei kein Vogel, sondern ein Stück Metall, meinen die Zöllner, die aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommen.

In Avis ist der rumänisch-französische Bildhauer Constantin Brancusi zu erkennen. Er brachte seine Messingskulptur "Der Vogel im Raum" 1926 eigenhändig nach New York, um sie an einen Sammler zu verkaufen. Den Wert des Messings musste er verzollen. Erst nach einem langen Rechtsstreit wurde seine Figur als Kunst anerkannt. Einer seiner langen, filigranen, glänzenden Vögel steht heute im Guggenheim Museum.

Constantin Avis geht eine Beziehung mit Lidy ein, einer Fotografin, die auch für die Galerie arbeitet. Die Galeristentochter will ihn überreden, eine Statuette des Stummfilmstars Alba Fantoni aus Onyx zu schaffen, die in einem Film, in dem die Schauspielerin sich selbst darstellt, enthüllt werden soll. Dieser Film wäre eine gute Werbung für Avis. Er zaudert. Ein Auftragswerk? Eine Skulptur für einen Film?

"Sie verstehen mich nicht (…). Ich kann nicht so schnell arbeiten. Ich muss die Steine erst mal horten, mit ihnen leben, lange, manchmal Jahre, bis ich sie atmen höre und verstehe, wer darin ist und von mir befreit werden will. Erst dann traue ich mich, die Meißel anzusetzen."

Er nimmt den Auftrag dennoch an. Die Skulptur ist am Ende noch nicht einmal mehr aus Onyx, sondern aus Pappmaché. Es sieht ja eh keiner genau hin. Er hat sie ja nur für den Film gemacht. Was Kunst ist – sein Vogel – wird nicht als solche angesehen, ein Stück Pappmaché hingehen soll Kunst darstellen.

Amüsiert betrachtet Dana Grigorcea die Attitüden der großen Künstler und deren Bohèmeleben, ihre Höhenflüge, die Kompromisse, die sie eingehen. Genauso scharf ist der Blick auf das vermeintliche Künstlerleben, in dem sich Dora einrichtet, um über Constantin Avis zu schreiben.  Dana Grigorcea hat einen feinen, ironisierenden Roman geschrieben über Vorstellung und Realität des Künstlerdaseins. Ganz leicht, so leicht wie das Gewicht eines Vogels beim Fliegen.