"Eine Leidenschaft" von Annie Ernaux

Stand: 17.06.2024, 07:00 Uhr

Gekonnt schonungslos gegen sich selbst erzählt die Literaturnobelpreisträgerin Annie  Ernaux in der autobiografischen Erzählung "Eine Leidenschaft", wie eine sexuelle Obsession Voraussetzung des Schreibens wird. Eine Rezension von Terry Albrecht.

Annie Ernaux: Eine Leidenschaft
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Bibliothek Suhrkamp, 2024.
80 Seiten, 20 Euro.

"Eine Leidenschaft" von Annie Ernaux Lesestoff – neue Bücher 17.06.2024 04:59 Min. Verfügbar bis 17.06.2025 WDR Online Von Terry Albrecht

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In ihrem 2022 erschienenen Buch "Der junge Mann" schreibt Annie Ernaux:

"Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen."

In "Passion Simple", das schon 1991 in Frankreich erschienen ist und nun neu unter dem Titel "Eine Leidenschaft" ins Deutsche übertragen wurde, hat sie bereits von der Symbiose aus Sex und Schreiben erzählt.

"Mir kam der Gedanke, dass man beim Schreiben genau danach streben sollte, nach dieser Wirkung, die die Szene eines Geschlechtsakts hervorruft, Beklemmung und Fassungslosigkeit, ein Aussetzen des moralischen Urteils."

Das autobiografische Schreiben der französischen Nobelpreisträgerin ist hier aus einer Liebesbeziehung erwachsen. Der mit dem Kürzel A. benannte verheiratete Liebhaber der Erzählerin ist ein in Paris lebender Osteuropäer, der schnelle Autos liebt und in etwa so aussieht wie Alain Delon. Sie verfällt ihm.

"Die einzigen Tätigkeiten, an denen mein Wille, mein Begehren und etwas, das wohl die menschliche Intelligenz ist (...), beteiligt waren, hatten alle eine Verbindung zu diesem Mann."

Alles, ihren gesamten Alltag ordnet sie dem Warten auf diesen Mann unter, der sich stets kurz vorher ankündigt und dann nur ein paar Stunden bei ihr bleibt. Bereit sein für ihn, in der Wohnung warten, er könnte anrufen – wir leben noch im analogen Zeitalter, die Berliner Mauer ist gerade erst gefallen.

In der Zeit ohne A., der nur wenig biografischen Raum in der Erzählung erhält, kommt bei ihr schnell die Angst auf verlassen worden zu sein. Ihren Lebensrhythmus bestimmen Obsession und Abhängigkeit in der Beziehung. Doch dann kommt die zweite Ebene der Geschichte ins Spiel:

"Ich hatte oft den Eindruck, diese Leidenschaft so zu leben, wie ich auch ein Buch geschrieben hätte: mit derselben Dringlichkeit, dass jede Szene gelingt, derselben Detailversessenheit. Bis hin zu dem Gedanken, dass es mir nichts ausmachen würde zu sterben, nachdem ich dieser Leidenschaft auf den Grund gegangen sein würde – obwohl ich nicht wusste, was 'auf den Grund gehen« in diesem Zusammenhang genau bedeutete –, genau wie »Ich werde sterben können, sobald ich das hier in einigen Monaten zu Ende geschrieben habe.'"

Sex hat hier nicht nur eine körperliche Funktion, sondern eine geistig intellektuelle: er ist der Schreibantrieb dieser zum Perfektionismus neigenden Autorin. Damit verbunden, ihr Umgang mit dem, was dem Schreiben vorausgeht, ja unabdingbare Voraussetzung ist: die Erinnerung. In "Eine Leidenschaft" ist es die an die sexuellen Abenteuer, die sie mit A. in ihrer Wohnung erlebt.

"An einem Nachmittag, als er bei mir war, brannte ich im Wohnzimmer ein Loch in den Teppichboden, indem ich einen heißen Espressokocher darauf abstellte. Es war mir egal. Mehr noch, jedes Mal, wenn ich die versengte Stelle sah, freute ich mich, weil sie mich an den Nachmittag mit ihm erinnerte."

Einmal sagt sie:

"Ich trage lediglich die Zeichen einer Leidenschaft zusammen."

Die letztlich zur Literatur gewordene Geschichte der Obsession ist ein Stück zeittypischen autobiografischen Schreibens. Weibliche Identität wurde zu einer aufkommenden literarischen Ausdrucksform der späten 80er, frühen 90er Jahre. Und Annie Ernaux hat auf diesem Feld sehr gekonnt und in immer wieder neuen Facetten Begriffe wie Scham, Begehren, Leidenschaft und vor allem Schmerz auf der einen Seite und dem sich daraus entwickelnden Antrieb zum Schreiben auf der anderen Seite agiert.

Offen und schonungslos gegen sich selbst. Das Erzählen der frühen Annie Ernaux hat auch Dank Sonja Fincks neuer Übertragung ins Deutsche, drei Jahrzehnte später, seine intime und radikale Qualität nicht verloren. Über die Beziehung zu A. schreibt Annie Ernaux:

"Dank ihm habe ich mich der Grenze zwischen zwei Menschen so sehr angenähert, dass ich mir manchmal vorgestellt habe, sie zu überschreiten."