"Shoppen wie ein Milliardär" - Temu gewinnt Nutzer

02:05 Min. Verfügbar bis 21.06.2026

Unterschlagen Billighändler wie Temu Steuern?

Stand: 21.06.2024, 15:21 Uhr

Zu oft absurden Tiefpreisen gibt es beim Onlinehändler Temu nahezu alles zu kaufen. Doch der chinesische Konzern unterschlägt womöglich Zollgebühren und Steuern. Die NRW-Landesregierung fordert nun schärfere Kontrollen.

Von Nina Magoley

"Shoppen wie ein Milliardär" - wer viel im Internet oder in den Sozialen Medien unterwegs ist, kommt eigentlich gar nicht an diesem Slogan vorbei: Immer wieder ploppen Werbeanzeigen des chinesischen Billiganbieters Temu auf. Von Kleidung über Elektro- und Küchengeräte, Beautyprodukten bis zur Luftpistole - scheinbar gibt es nichts, was man bei Temu nicht bestellen könnte. Und fast alles zu praktisch unschlagbar günstigen Preisen.

Ein modischer Pullover für 11,98 Euro, Sneaker für 4,89 Euro, die Sonnenbrille für 2,47 Euro. Zusätzlich zu den niedrigen Preisen und Rabatten bis zu 95 Prozent lockt Temu mit kostenlosem Versand. In der App warten außerdem diverse Online-Spielchen, bei denen es auch Rabatte zu gewinnen gibt.

Selbst Fernsehzuschauern der Fußball-EM begegnet der Temu-Slogan in diesen Tagen ständig zwischen den Spielen.

Steile Erfolgskurve in nur einem Jahr

2022 gegründet, ist der chinesische Anbieter seit dem Frühjahr 2023 auch auf dem europäischen Markt auf Erfolgskurs. Die App gehört mittlerweile zu den beliebtesten überhaupt, in nur einem Jahr hat sich Temu den Verkaufszahlen der Branchenriesen Otto (Marktanteil 30 Prozent) und Ebay (44 Prozent) angenähert.

Temu-System: Finanzminister ist alarmiert

Doch in der Politik läuten beim Thema Temu längst die Alarmsirenen: Auf der Finanzminister-Konferenz am Freitag in Bremen will NRW-Finanzminister Marcus Optendrenk (CDU) einen Antrag vorlegen, in dem NRW schärfere Zollkontrollen für Importe über "Internetplattformen aus dem asiatischen Raum" fordert. Akteure wie Temu würden den Markt mit minderwertiger Wegwerfware "überschwemmen" und dabei die zutreffenden steuerlichen Grundlagen "verschleiern", heißt es in dem Antrag.

Politik will mehr Kontrolle im System Temu

Auf WDR-Anfrage erklärt das NRW-Finanzministerium, wie die Billigpreise chinesischer Online-Versandhändler wie Temu zustande kommen: Für den Zoll würde der Warenwert bewusst niedrig angegeben, wodurch auch die zu zahlende Umsatzsteuer und etwaige Zollgebühren niedrig ausfielen.

Tatsächlich fallen Zollgebühren in Deutschland erst ab einem Sachwert von 150 Euro an. Das scheint Temu zu nutzen: Im Zweifel werden größere Bestellungen in Einzelpaketen verschickt, um den zollfreien Betrag nicht zu überschreiten.

Bund, Ländern und Gemeinden entgingen dadurch Steuereinnahmen schätzungsweise in Milliardenhöhe. "Die massive Flut von teilweise gesundheitsgefährdender Billigware aus Fernost trifft an unseren Grenzen auf einen Zoll, der darauf nicht vorbereitet ist", so Finanzminister Optendrenk, "eine effektive Kontrolle, was auf unseren Markt gelangt und ob es fair besteuert ist, findet de facto nicht statt".

Tricksereien beim Zoll: Warenwert zu niedrig angegeben

Bis zu 200.000 Temu-Pakete werden laut Schätzung von E-Commerce-Experte Alexander Graf pro Tag nach Deutschland geliefert - transportiert über billige Frachtflüge, deren Ziel kleinere Flughäfen wie zum Beispiel Lüttich in Belgien sind.

Während Recherchen der ARD-Sendung Plusminus konnten die Journalisten beim Zoll am Flughafen Lüttich beobachten, wie Zollkontrolleure ein Paket aus China mit einem angegebenen Warenwert von 54 Euro öffneten. Darin: ein 1.270 Euro teurer 4K-Beamer

"Zulasten ehrlicher Gewerbetreibender"

Mit diesen Methoden der chinesischen E-Commerce-Riesen entstehe eine Wettbewerbsverzerrung "zulasten der redlichen Unternehmer in Deutschland und in der Europäischen Union", sagt Finanzminister Optendrenk. "Ehrliche Gewerbetreibende" könnten dem kaum noch standhalten.

Optendrenk will, dass der Bundesrat die Bundesregierung auffordert, die Zollvorschriften für asiatische Onlinehändler schärfer zu kontrollieren. Außerdem soll sich die Bundesregierung in der EU dafür einsetzen, Umsatzsteuer- und Zollrecht so zu verändern, "dass eine zutreffend und gerechte Besteuerung der Paketflut aus dem Drittland sichergestellt ist".

So schafft Temu Billigpreise

Legal dagegen ist noch eine weitere Strategie im Geschäftsmodell von Temu: Um seine Tiefpreise zu erreichen, verbindet das Unternehmen - ähnlich, wie die Konkurrenten Shein, Wish und Alibaba - seine Onlinekunden beim Kauf eines bestimmten Produkts direkt mit sehr günstigen Anbietern aus China. Meistens handelt es sich dabei um No-Name-Produkte, Eigenmarken bietet Temu gar nicht an.

Keine Haftung im Schadenfall

So übernehme Temu auch keinerlei Haftung für die verkauften Artikel, warnt die Verbraucherzentrale: Wer sich etwa an einem mangelhaften Elektrogerät von Temu verletzt, kann nicht mit Schadenersatz rechnen. Laut Gesetz haftet bei Schäden über 500 Euro normalerweise der Hersteller – bei Importen von außerhalb der EU haftet der Importeur. Der aber ist bei Temu der Kunde selber, da direkt beim Händler eingekauft wird.

In den Temu-Nutzungsbedingungen heißt es, man hafte "nicht für die Genauigkeit, Zuverlässigkeit oder Vollständigkeit der von uns auf Temu kostenlos bereitgestellten Inhalte oder für etwaige Schäden, die aus diesen Inhalten entstehen".

Temu widerspricht den Vorwürfen

Temu selber lässt den Vorwürfen über eine Berliner Kommunikations-Beratungsagentur widersprechen: "Wir teilen keine Pakete auf, um den Zoll zu umgehen, und machen keine falschen Angaben", schreibt ein "Unternehmenssprecher" dem WDR am Freitag. Wenn Pakete aufgeteilt würden, dann nur aus logistischen Gründen, zum Beispiel aufgrund von Größen- und Gewichtsbeschränkungen. Zudem gebe es auch "behördliche Vorschriften", wonach bestimmte Sendungen getrennt verschickt werden müssten. "Wir verpflichten uns, die Gesetze und Vorschriften der Märkte, in denen wir tätig sind, in vollem Umfang einzuhalten", heißt es in der Stellungnahme. Das Wachstum von Temu sei "auf das operative Know-how und die Effizienz der Lieferkette unseres Direkt-ab-Werk-Modells" zurückzuführen.

Schlechte Qualität, schlechter Kundenservice

Die Verbraucherzentrale rät generell zur Vorsicht beim Shoppen auf Plattformen wie Temu: Die supergünstigen Modeartikel oder Elektrogeräte stellten sich oft schnell als qualitativ eher minderwertig heraus. Oder sogar als gesundheitsschädlich - durch aggressive Färbungen oder schadstoffhaltiges Plastik zum Beispiel. Laut Verbraucherzentrale beschweren sich Kunden auf Bewertungsportalen vor allem über schlechte Qualität, gar nicht erhaltene Sendungen und schlecht erreichbaren Kundenservice.

CE-Kennzeichnung auf einem Elektrogerät

Elektrogeräte oft ohne CE-Zeichen

Viele Artikel seien bei Lieferung bereits kaputt, warnt die Verbraucherzentrale. Elektrogeräte hätten oft keine oder gefälschte Sicherheitskennzeichnungen wie das CE-Zeichen, oder keine Betriebsanleitung in deutscher Sprache. Ein Testeinkauf der WDR Servicezeit bestätigte diese Beobachtung.

"Regelrechter Kaufrausch"

Trotz all dieser Kritik - das Konzept funktioniert: Laut einer Umfrage der Marktforschungsplattform Appinio hat bereits jeder Vierte zwischen 16 und 65 Jahren in Deutschland schon einmal bei Temu bestellt. "Mit einer aggressiven Marketingstrategie und dem Versprechen, Qualitätsprodukte zu unschlagbar günstigen Preisen anzubieten, hat Temu insbesondere die Generation Z fest im Griff und sorgt für einen regelrechten Kaufrausch", schreibt die Onlinezeitung für digitale Themen "The Digioneer". Interessierten Werbepartnern oder Influencern bietet Temu zudem bis zu 20 Prozent Provision und Prämien für Nutzer-Downloads.

Wie nachhaltig können Billigartikel aus China sein?

Gerade in Zeiten, da das Thema Nachhaltigkeit längst bei vielen Nutzern angekommen ist, muss man sich fragen, wie sozial- und umweltverantwortlich das Einkaufen bei einem solchen Anbieter sein kann.

Temu selber verweist zum Thema Nachhaltigkeit auf eine Partnerschaft mit der Initiative "Trees for the Future", die Bäume in Afrika pflanze. Mehr als 10 Millionen Bäume seien so bereits gepflanzt worden. Auf ihrer Homepage bestätigt die US-amerikanische Umweltinitiative die Kooperation mit Temu.

"Fast Fashion ist niemals nachhaltig"

Kritiker überzeugt das nicht: "(Ultra) Fast Fashion ist niemals nachhaltig", schreibt die Verbraucherzentrale Niedersachsen. Viele Kleidungsstücke würden nur für eine Saison gekauft. Durch die günstigen Preise bei Temu werde "eher das Kaufen von Billigprodukten angefeuert, anstatt auf Wiederverwendung, Reparatur oder Secondhand-Kauf zu setzen". 

Zudem sei fraglich, ob bei Anbietern wie Temu, Shein oder Wish grundlegende Menschenrechtsstandards eingehalten werden. Wie das Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeit oder auch zentrale Umweltstandards wie das Verbot der Verunreinigung von Trinkwasser.

Das Bundesumweltministerium mahnte im vergangenen Jahr: Im Schnitt kaufe schon jetzt jede Verbraucherin und jeder Verbraucher in Deutschland jährlich 60 Kleidungsstücke. Dabei werde jedes fünfte Kleidungsstück so gut wie nie getragen. "Alle Anzeichen einer exzessiven, nicht-nachhaltigen Entwicklung sind erfüllt", sagt das Ministerium.

Quellen:

  • NRW-Finanzministerium
  • ARD-Recherche Plusminus
  • Statista
  • Marktforschungsinstitut Appinio
  • Verbraucherzentrale
  • Verbraucherzentrale Niedersachsen
  • Onlinemagazin "The Digioneer"
  • Homepage Temu
  • schriftliche Stellungnahme Temu gegenüber dem WDR