Buchcover: "Doktor Garin" von Vladimir Sorokin

Buch der Woche

"Doktor Garin" von Vladimir Sorokin

Stand: 15.02.2024, 20:38 Uhr

Eine tragische Dreiecksgeschichte und ein turbulenter Bildungsroman aus der queeren Londoner Kunst-Bohème! Zehn Jahre sind vergangen, seit das deutsche Lesepublikum dem charismatischen Arzt mit Kneifer zuerst begegnet ist. Zehn Jahre auch im Leben von Doktor Garin selbst.

In seinem Roman "Der Schneesturm" hatte Vladimir Sorokin seinen Doktor Garin hinaus in den russischen Winter geschickt. Garin sollte die bolivianische Pest bekämpfen, die in einem kleinen Dorf namens Dolgoje ausgebrochen war und die Menschen in Zombies verwandelte. Doch dort kam Garin nie an, ein Schneesturm nahm ihm beide Beine.

Zehn Jahre später stiefelt Doktor Garin putzmunter auf Titanbeinen durch das Nobel-Sanatorium "Altai-Zedern". Wir sind immer noch weit in der Zukunft, irgendwo in der Mitte des 21.Jahrhunderts. Nach den Drei Kriegen und diversen Revolutionen ist die Welt ein Schlachtfeld und Russland zerfallen. All das scheint weit weg im herrlichen Altaigebirge.

Aber ein Blick auf Garins prominente Patienten macht klar: In der Welt muss einiges schief gelaufen sein. Die acht Patienten heißen Donald, Silvio, Angela, Emmanuel, Boris, Shinzo, Justin und Vladimir und klar: Das sind die früheren Staatschefs der G8 aus der Zeit kurz vor dem Ukrainekrieg.

Nur sehen sie mittlerweile ganz anders aus: Sorokin hat aus den Herren der Welt und der einen Dame acht lebendige Hintern gemacht mit großen Augen, dünnen biegsamen Armen und ohne Geschlechtsmerkmale.

Damit ist Raum für wüste Scherze aller Art gewonnen und Sorokin nutzt diesen Raum mit Lust am Exzess. Doch dann bricht wieder Krieg aus und Garin und seine Schutzbefohlenen müssen fliehen. In der Folge entfaltet sich ein Abenteuerroman aus altem Schrot und Korn.

Allerdings einer, wie ihn nur Vladimir Sorokin schreiben kann: Es gibt grandiose Gefechte und Duelle. Garin findet die Liebe und verliert sie wieder. Es gibt Bioroboter namens Majakowski, Anarchisten hinter Stacheldraht und lebende Minen, einen Boulevard der aufständischen Henker, Massenmasturbation, Zombies und Barbiepuppen-große Göttinnen mit Verdauungsproblemen.

All das macht "Doktor Garin" zu einem atemlosen Lesevergnügen. Aber das Erstaunlichste an diesem Buch ist, dass es nicht nur atemlos ist, sondern auch vollkommen leb- und emotionslos. Ungeachtet aller Gewalt und apokalyptischen Zerstörung, durch die Sorokins Helden seltsam unbeeindruckt von Abenteuer zu Abenteuer ziehen.

Ist Vladimir Sorokins "Doktor Garin" also eine apokalyptische Antiutopie? Die Parodie auf eine Antiutopie? Oder einfach ein Roman mit glitzernder Fassade und wenig Inhalt? Die Antworten auf diese Fragen liefert Sorokin möglicherweise selbst: Der dritte und letzte Teil der Garin-Trilogie ist gerade in Moskau erschienen.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Vladimir Sorokin: Doktor Garin
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Kiepenheuer & Witsch, 2024
592 Seiten, 26 Euro