Wir treffen uns vor dem Gemeindezentrum in Lüdenscheid-Brügge, in dem der Missbrauch begann. Zum ersten Mal seit ihrer Jugend sind Andreas und Markus (Namen von der Redaktion geändert) wieder hier. Sie haben schlimme Erinnerungen an diesen Ort - aber auch sehr schöne.
Kickern, spielen, jung sein
Beide Männer erzählen, wie gerne sie früher zu den Gruppenstunden gekommen sind. Immer montags haben sich die Jungs hier getroffen, gekickert, andere Spiele gemacht, eine gute Zeit gehabt.
Doch wenn die Stunden zu Ende waren, begannen die Übergriffe. Weil kein Bus mehr fuhr, brachte der ehrenamtliche Jugendbetreuer die Jungs mit seinem Auto nach Hause. "Und sobald man der letzte war, ging das Thema immer sofort auf Selbstbefriedigung", schildert ein Betroffener.
Übergriffe im Wellenbad
Es blieb nicht bei diesen intimen Gesprächen. Der Jugendbetreuer wollte die Jungs auch nackt sehen. Er organisierte Treffen im früheren Lüdenscheider Wellenbad. Hier bestand er darauf, sich in einer Sammelumkleide umzuziehen, gemeinsam zu duschen oder in die Sauna zu gehen.
Erst als sie längst erwachsen waren und sich beim Abitreffen an die Montagnachmittage erinnerten, wurde ihnen bewusst, dass sie als etwa 13-Jährige Opfer sexualisierter Gewalt geworden waren. Als Markus und die beiden anderen die Vorfälle der Landeskirche meldeten, fasste auch Andreas den Mut dazu.
Andreas schildert, was ihn damals bewegt hat: "Wenn ich jetzt irgendwas zur Anzeige bringe, dass er dann sofort weiß, wer ich bin. Auch wegen meiner Mutter, die ja noch hier wohnte."
Täter beging Suizid
Kurz nach der Anzeige 2020 beging der Täter Suizid. Die vier Opfer, die mit uns sprechen, gehören vermutlich zu den ersten, bei denen der damals Anfang 20-jährige Täter ausprobiert hat, wie weit er gehen kann. Spätere Betroffene berichten von massiven Übergriffen, sogar von Vergewaltigungen.
Die evangelische Landeskirche hat eine unabhängige Kommission mit einer Studie zu den Lüdenscheider Missbrauchsfällen beauftragt. Als sie im März vorgestellt wurde, haben Markus und Andreas erstmals erfahren, dass es mindestens 20 Opfer gab - und in der Kirchengemeinde mehrere Mitwisser.
Ein Betroffener sagt: "Da ist mir erst mal die Spucke weggeblieben."
Schulungen für alle Mitarbeiter
Für die damaligen Pfarrer hat die Studie bislang keine Konsequenzen. Die Landeskirche, der Kirchenkreis und die Gemeinde erarbeiten nun Konzepte, wie Kinder und Jugendliche besser geschützt werden können. Alle Haupt- und Ehrenamtlichen sollen geschult werden.
Die Opfer von damals leiden bis heute: nicht nur unter den Taten, sondern auch darunter, dass sie bis heute durch ihre Anzeige innerhalb der Gemeinde als Nestbeschmutzer gelten. Inzwischen lebt niemand von ihnen mehr in Lüdenscheid.
Unsere Quellen:
- Gespräche mit den Geschädigten
- Studie der evangelischen Landeskirche