Eigentlich hat die Polizei in NRW kein wirkliches Nachwuchsproblem. Zwar fehlen Polizeikräfte, weil viele Ältere gerade in Rente gehen und sich die Stellen nicht ad hoc neu besetzen lassen. Doch nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei NRW (GDP NRW) steigt die Zahl der Bewerber derzeit jedes Jahr. Für die jährlich rund 2.750 Ausbildungsstellen an der Polizeihochschule gab es zuletzt mehr als 10.000 Bewerbungen.
Voraussetzung ist allerdings ein Abitur oder die Fachhochschulreife. Wer das nicht mitbringt, dem blieb bislang die Polizeilaufbahn verschlossen. Diese Hürde will die Landesregierung jetzt abbauen. Mit dem "Schulversuch Fachoberschule Polizei" soll der Weg in den Polizeidienst vereinfacht werden: Auch Schülerinnen und Schüler mit mittlerem Schulabschluss können ab Mitte dieses Jahres eine Ausbildung bei der Polizei beginnen.
Ein Jahr Praxis, dann Berufskolleg
Sie findet nicht an der Polizeihochschule statt, sondern an bislang elf teilnehmenden Berufskollegs quer durch NRW. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) und Innenminister Herbert Reul (CDU) stellten das Projekt am Mittwoch in Düsseldorf vor.
Voraussetzung ist der mittlere Schulabschluss oder die Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe. Die Ausbildung bis zur Fachhochschulreife dauert zwei Jahre. Im ersten Jahr - also in der Jahrgangsstufe 11 - ist ein einjähriges Praktikum in einer Kreispolizeibehörde vorgesehen. Dazu gehören beispielsweise Wachdienste und Streife, aber auch Verwaltungsarbeit.
Die Jahrgangsstufe 12 besteht ausschließlich aus Unterricht am Berufskolleg und schließt mit der Fachhochschulreifeprüfung ab. Wer das geschafft hat, kann sich an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung für das dreijährige Polizeistudium bewerben.
Reul: "Tolle Quote" bei den Bewerbungen
Mit dem Schulversuch sollen "endlich wieder auch Bewerberinnen und Bewerber mit mittlerem Schulabschluss einen Zugang zum Polizeivollzugsdienst" bekommen, sagte Schulministerin Gebauer. Im August startet das Projekt, schon jetzt hätten sich rund 2.500 junge Menschen beworben. Innenminister Reul sprach von einer "tollen Quote". Die hohen Bewerberzahlen bewiesen "einmal mehr, wie ungeheuer beliebt der Polizeiberuf ist", so Reul.
Konkurrenz durch die Bundeswehr
Bei der Polizeigewerkschaft NRW stößt das Projekt auf gemäßigtes Interesse. Bewerber für den Polizeiberuf gebe es zwar mehr als genug, heißt es dort. Allerdings müsse man damit rechnen, dass die Bewerberzahlen in den nächsten Jahren abnehmen, sagt GDP-NRW-Chef Michael Maatz: "Wir bekommen verstärkt Konkurrenz durch die Bundeswehr." Deren massive Werbekampagnen kämen derzeit gut an bei den jungen Leuten.
"Insofern kann dieser Schulversuch nicht verkehrt sein", meint Maatz, man schaue sich das jetzt mit Interesse an. "Die Frage ist ja: Halten die Leute das durch, ganz ohne Vergütung?" Schon beim regulären Polizeistudium liege die Durchfall- und Abbrecherquote bei 20 Prozent.
Kripo: Wer soll die Jugendlichen betreuen?
Grundsätzlich begrüße auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter das Projekt, sagt dessen NRW-Landesvorsitzender Oliver Huth. Noch nicht ganz gelöst sei die Frage, wie das Ganze umgesetzt werden soll. "Bislang haben wir Erwachsene ausgebildet, jetzt müssen wir quasi Erziehungsberechtigte sein für 16-Jährige." Die Anforderungen an die Lehrkräfte seien dabei "doch schon etwas höher als bei einem E-Jugend-Trainer". Zusätzliches Personal sei der Polizei dafür bisher nicht in Aussicht gestellt worden. "Alles steht und fällt also mit der Frage: Wie kriegen wir das hin?", warnt Huth. So richtig fertig vorbereitet sei das Projekt noch nicht.
Tatsächlich wird Nachwuchs dringend gebraucht. Denn nicht nur wurde die Polizei, wie GDP-Chef Maatz es formuliert, mit Stellenabbau "jahrelang kaputtgespart". Mit den jetzt Pensionierten gehen hauptsächlich Vollzeitkräfte. Mit heutigen Ansprüchen an die "Work-Life-Balance" aber sind allein bei der Kriminalpolizei 12 Prozent grundsätzlich in Teilzeit.
Polizeikräfte fehlen
Zahlen der GDP: So viele Polizeikräfte fehlen in NRW
Nach Angaben der GDP hat die schwarz-gelbe Landesregieurung ihr Versprechen, die Präsenz der Polizei vor Ort zu stärken, in fünf Jahren nicht eingelöst. In 17 der insgesamt 47 Kreispolizeibehörden stünden jetzt sogar weniger Kräfte zur Verfügung als vor fünf Jahren. Besonders große Personallücken klaffen demnach in Essen (62 Kräfte weniger als 2017), Dortmund (24 weniger), Düsseldorf (18 weniger), Recklinghausen und Paderborn (je 13 weniger). Zuwachs gab es dagegen in Kreisen und Städten wie Köln (98 Kräfte mehr), Bonn (23 mehr), Heinsberg (14 mehr) oder Minden-Lübbecke (15 mehr).
Und: Er sei "verwundert", sagt Maatz, dass die schwarz-gelbe Landesregierung den Schulversuch, der eigentlich schon 2017 im Koalitionsvertrag angekündigt war, jetzt auf den letzten Drücker noch an den Start bringe. "Vier Jahre lang ist nichts passiert."
Nach Angaben des Landes sind in NRW derzeit rund 40.500 Polizeibeamtinnen und -beamte im Einsatz. Im September 2021 wurden zuletzt 2.584 neue Kommissaranwärter nach ihrer zweijährigen Ausbildung vereidigt.