Große Kundgebung gegen das Sparen im sozialen Bereich
Stand: 13.11.2024, 06:00 Uhr
Familienbildungsstätten, Integrationskurse, Frauenhäuser oder Projekte für Suchtkranke – sie alle sind von den Sparmaßnahmen der schwarz-grünen NRW-Landesregierung betroffen. Dagegen protestieren am Mittwochmittag die Freie Wohlfahrtspflege NRW mit Gewerkschaften und Betroffenen.
Von Johannes Hoppe und Selina Marx
Die Freie Wohlfahrtspflege NRW hat für Mittwochmittag zur Kundgebung gegen die geplanten Haushaltskürzungen im sozialen Bereich aufgerufen. Ab 12:05 Uhr wollen sich die Protestteilnehmer auf den Rheinwiesen in Düsseldorf-Oberkassel versammeln. Die Stelle liegt dem NRW-Landtag gegenüber. Die Polizei rechnet mit etwa 30.000 Teilnehmenden. Deshalb hatte sie eine Kundgebung direkt am Landtag nicht gestattet.
Viele Projekte vor dem Aus
Nach Berechnungen der Freien Wohlfahrtspflege sollen 83 Millionen Euro im sozialen Bereich gekürzt werden. "Das sind Einsparungen in einem noch nie dagewesenen Umfang", kritisiert Hartmut Krabs-Höhler, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW.
Die Folge: Viele Projekte könnten gar nicht oder nur eingeschränkt weitergeführt werden. Besonders betroffen davon seien die Familienhilfe und Familienbildungsstätten, Angebote im Bereich Integration, die Altenhilfe und die Suchthilfe.
Man habe angesichts der "haushaltspolitischen Herausforderungen" Kürzungen erwartet, so die Freie Wohlfahrtspflege. Jedoch seien die nun veröffentlichen geplanten Einsparungen "besonders hart".
In der Freien Wohlfahrtspflege haben sich die Arbeiterwohlfahrt (AWO), die Caritas, die Paritätische, das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Diakonischen Werke und die Jüdischen Gemeinden zusammengeschlossen.
Anja Weber, Vorsitzende DGB NRW
Ihrem Aufruf zur Kundgebung schließen sich auch die Gewerkschaft verdi und der Deutsche Gewerkschaftsbund NRW (DGB) an. "Knappe Kassen dürfen nicht dazu führen, dass dort gespart wird, wo Hilfe am meisten gebraucht wird.", sagte die Vorsitzende des DGBs Anja Weber.
„So kann Integration nicht gelingen“
Die Bildungsreferentin beim Progressiven Eltern- und Erzieher*innen-Verband NRW (PEV), Angelika Lücke, fürchtet, dass sie viele Integrationskurse einstellen muss, beispielweise Sprach- und Spielkurse für geflüchtete Mütter und ihre Kinder. Denn die bisherige Förderung (zwei Millionen Euro) für solche Angebote soll komplett wegfallen. Dabei werde hier ein wichtiger Grundstein gelegt, erklärt Lücke. In den Kursen werde Deutsch gelernt – möglichst alltagsnah – oder das deutsche Schulsystem erklärt. Das ausgerechnet an dieser Stelle gespart werden soll, kann sie nicht nachvollziehen. "Alle reden von Integration und Chancengleichheit, aber so geht es nicht", so Lücke.
Zwei Drittel weniger Geld für Flüchtlingsberatung
Gleich sieben Millionen Euro will das Land bei der Arbeit mit geflüchteten Menschen einsparen. Das rechnete die Diakonie Rheinland Westfalen Lippe (RWL) aus. Ein herber Schlag für Barbara Geisler-Hadler. Sie ist Geschäftsführerin des Diakonischen Werks in Herford. 30 Jahre lang hat die Diakonie dort soziale Beratung für geflüchtete Menschen in einer Landesunterkunft angeboten, 15 Jahre lang die Asylverfahrensberatung. Bis zum 30. September. Das Angebot wurde aus finanziellen Gründen aufgegeben.
Das sei für sie und auch die Mitarbeiterin auf dem Posten nur schwer auszuhalten, sagt sie. "Weil die ganz klar gesagt hat: Ich habe auch dies Gefühl, ich lass da Menschen auch im Stich."
Bei vielen Geflüchteten sei das Ende des Angebots noch nicht angekommen, sagt Barbara Geisler-Hadler. Viele seien verzweifelt und würden trotzdem vor den Türen der Einrichtung immer noch auf Beratung hoffen.
Der Blick in die Zukunft ist düster, denn wenn die Bundesregierung es nicht schafft in diesem Jahr noch einen Haushalt zu verabschieden, muss die Diakonie in Herford mit Geld planen, das sie noch gar nicht hat. Die Einrichtung ist komplett abhängig von Fördergeld. Gleichzeitig will das Land NRW laut Diakonie RWL die Anzahl der aktuell 57 Landesunterkünfte, mit knapp 35.000 geflüchteten Menschen ausbauen, auf 75.
Hilfen für Straftäter fallen weg
Komplett wegfallen sollen auch zwei Posten in der Gefährdetenhilfe. Dazu zählt die Vermittlung von gemeinnütziger Arbeit als Ersatzfreiheitsstrafe. Diese sei mit pädagogischen Maßnahmen verknüpft, die Menschen davor bewahren könnten, wieder straffällig zu werden, erklärt Bettina Rudat, die als Referentin beim Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln für die Gefährdetenhilfe zuständig ist. Dort wurden alleine in diesem und dem vergangenen Jahr fast 700 Menschen betreut. Statt im Gefängnis zu sitzen, haben die Menschen beispielweise Parks sauber gemacht. Das habe einen Mehrwert für die Gesellschaft und sei langfristig auch günstiger. Der Verband hat berechnet, dass sie alleine in Köln fast 11.000 Hafttage gespart haben, die sonst mehr als zwei Millionen Euro gekostet hätten.
Frauenhäusern droht die Schließung
Mit Schließungen rechnet auch die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser in NRW. "Schließungen werden mit dem jetzigen Haushaltsentwurf billigend in Kauf genommen.", heißt es in einer Stellungnahme an den Landtag. Denn viele Frauenhäuser befänden sich schon jetzt in einer „finanziell prekären Lage“. Trotzdem plant die Landesregierung die Förderung zum Schutz gewaltbetroffener Frauen um fast zwei Millionen Euro zu kürzen. Dabei sind die Fälle von häuslicher Gewalt in NRW seit 2018 kontinuierlich gestiegen.
Weniger Suchthilfe trotz mehr Drogentoter
In der Suchthilfe sollen Präventionsmaßnahmen und Hilfen um fast 37 Prozent auf 3,4 Millionen Euro gekürzt werden. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Drogentoten in NRW seit 2015 verfünffacht. Im vergangenen Jahr erreichte sie mit mehr als 872 Toten ein neues Rekordniveau.
Mehr Geld für Pflegeberufe
Massive Kürzungen sind auch im Bereich der Altenhilfe geplant. Knapp die Hälfte (53 Prozent) der Landesförderung für Alter und Pflege soll 2025 entfallen. Dadurch könnten wichtige Modernisierungen von Pflegeeinrichtungen nicht gemacht werden, so die Freie Wohlfahrtspflege. Außerdem müssten Projekte zur häuslichen Versorgung oder Hilfen für pflegende Angehörige eingeschränkt werden.
Immerhin ein Lichtblick gibt es in dem Bereich: Die Landesregierung will zusätzlich knapp 20 Millionen Euro in die Ausbildung von Pflege- und Gesundheitsberufen investieren, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Ministerpräsident: Verständnis, aber kein Geld
Auf seiner Pressekonferenz am Dienstag verteidigte Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) die geplanten Kürzungen im Haushalt: "Da ist kein Sack Geld, den wir noch nehmen können und nur nicht wollen." Aber er zeigte auch Verständnis: "Ich habe Verständnis für jeden einzelnen, der Morgen seine Anliegen vorträgt. Nach allem, was ich weiß, sind das alles Menschen und Institutionen, die sich an ganz, ganz vielen Stellen für die Dinge einsetzen, die mir wichtig sind."
Auf der Kundgebung wollen sich Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) und Familienministerin Josefine Paul (Grüne) auf der Bühne der Kritik der Verbände stellen.
Unsere Quellen:
- Infobroschüre der Freien Wohlfahrtspflege NRW
- Pressegespräch Diakonisches Werk Rheinland Westfalen Lippe
- Pressekonferenz des Ministerpräsidenten
- eigene Recherchen der Reporter
Über dieses Thema berichten wir auch am Mittwoch, 13.11., um 12:45 Uhr in WDR Aktuell im WDR Fernsehen sowie in den Hörfunk-Nachrichten.