Köln, an einem Samstagvormittag im September. Leicht ist es nicht, was sich Lisa vorgenommen hat. Die 23-jährige Frau will darüber reden, wie ein katholischer Priester sie missbrauchte, wie sie vor Gericht gegen ihn aussagte - und wie sie im Prozess erfuhr, dass das Kölner Erzbistum und die Staatsanwaltschaft die Taten vielleicht hätten verhindern können.
Wir treffen Lisa, die hier nicht mit Nachnamen genannt werden möchte, im Kölner Landgericht, Saal 142. Ein Ort, der sie daran erinnert, wie stark sie war, als sie gegen ihren Täter ausgesagt hat. Aber auch: "Der Moment, als ich den Angeklagten das erste Mal wieder gesehen habe, als ich das erste Mal seine Stimme gehört habe, das waren Angstsituationen."
Priester schon 2010 wegen Missbrauchs angezeigt
Der Pfarrer war mit ihren Eltern befreundet. Der Missbrauch ging über Jahre. Erst später erfuhr sie: Im Jahr 2010 war der Pfarrer von seinen Nichten angezeigt worden. Staatsanwaltschaft und Verantwortliche des Bistums hatten mit ihnen geredet. Doch schließlich wollten sie auf Druck der Familie damals nicht aussagen.
Die Kölner Staatsanwaltschaft sagt auf WDR-Anfrage, die Beweislage habe für weitere Ermittlungen nicht ausgereicht. Es habe "keinerlei Hinweise auf mögliche weitere Geschädigte, insbesondere nicht außerhalb der Familie" gegeben. "Eine Befragung im Ort zu diesem Zeitpunkt wäre daher als unzulässige Ausforschung einzuordnen gewesen."
Die Kirche untersagte dem Pfarrer zeitweise den Kontakt mit Kindern. Ob er sich daran hielt, kontrollierte aber niemand. Das macht Lisa heute wütend. Genau in dieser Zeit, 2011, verbrachte sie mehr als eine Woche in der Wohnung des Täters – und wurde missbraucht.
Sie erinnert sich bis heute an einen Satz des Richters, der sich an die Verantwortlichen der Kirche richtete: "Man hätte nur einmal in den Ort fahren müssen und sich umhören, dann hätte man erfahren, dass regelmäßig kleine Mädchen bei dem Angeklagten übernachten." Lisa fragt sich, ob der Satz nicht auch für die Staatsanwaltschaft gilt.
2022 wurde der Pfarrer zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Nach über 40 Jahren Missbrauch an mindestens 15 Mädchen. Rein juristisch habe die Staatsanwaltschaft vielleicht keinen Fehler gemacht, erklärt der Strafrechtsprofessor Rolf Herzberg. Aber rein juristisch hätten sie auch weiter ermitteln können. Dass die Zeuginnen nicht aussagen wollten, beseitige ja nicht "die handfesten Tatsachen. Es ist doch mit Händen zu greifen, dass da was nicht in Ordnung war."
Hätte die Staatsanwaltschaft Missbrauchstaten von Priestern verhindern können?
2022 weist die Missbrauchsstudie in Münster auf eine kritische Nähe zwischen Justiz und Kirche hin. Eine Sonderbehandlung für die Kirche? Das kann sich NRW Justizminister Benjamin Limbach nicht vorstellen. Er sagt dem WDR: "Unsere Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gehen bei jedem Anfangsverdacht gleichermaßen vor. Es interessiert nicht der Geldbeutel oder ein Kardinalshut."
Kritik an den zurückhaltenden Staatsanwaltschaften kam erstmals 2018 auf. Damals gab die sogenannte MHG -Studie aller deutschen Bistümer einen ersten Eindruck vom Ausmaß des Missbrauchs in der katholischen Kirche. Danach haben mindestens 1.670 Geistliche mehr als 3.600 Kinder und Jugendliche missbraucht. Die Dunkelziffer, da sind sich Wissenschaftler sicher, liegt deutlich höher.
Die Zahlen sorgten für Entsetzen. Auch bei sechs Strafrechtsprofessoren, darunter auch Rolf Herzberg. Sie erstatteten Anzeige gegen Unbekannt und wollten so alle zuständigen Staatsanwaltschaften zum Handeln bewegen.
WDR-Recherche: Bis Anfang 2023 keine Durchsuchungen in Bistümern
Eine deutschlandweite WDR-Recherche zeigt nun: Zwar haben die meisten Staatsanwaltschaften Vorermittlungen eingeleitet und Kontakt mit den Bistümern aufgenommen. Viele haben auch Akten angefordert. Aber bis Anfang 2023 hatte keine einzige Staatsanwaltschaft die Leitung eines Bistums durchsuchen lassen, wie die WDR-Umfrage unter allen für die 27 Bistümer zuständigen Staatsanwaltschaften ergeben hat. Die Begründung: Es habe keinen Anlass gegeben zu vermuten, dass die Kirche etwas verheimlichen würde. Erst Anfang dieses Jahres drangen Ermittler in München in Räume des dortigen Erzbistums ein. Die Durchsuchung blieb aber folgenlos.
Der Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld kann das nicht nachvollziehen. Er sagt dem WDR: "Die Staatsanwaltschaften hätten die Bistümer durchsuchen lassen sollen." Man könne sich doch nicht darauf verlassen, dass Bischöfe freiwillig Akten herausgeben, "mit denen sie sich möglicherweise selbst belasten würden." Das sei, als hätte man beim Diesel-Skandal die VW-Manager freundlich gebeten, doch bitte alles an die Staatsanwaltschaft zu übergeben.
Lisa muss bei dem Gedanken schlucken, dass ihr Missbrauch vielleicht hätte verhindert werden können. Angesichts so einer Anzeige hätte man doch nachforschen können, sagt sie. "Lieber einmal zu viel als zu wenig, oder?"
Über das Thema berichten am 25.09.2023 auch das WDR 5 Morgenecho und die Aktuelle Stunde im WDR Fernsehen.