Missbrauch in der Kirche: Was tut die Justiz für die Aufarbeitung?

Stand: 22.04.2023, 16:44 Uhr

250 mögliche Missbrauchs-Täter im Erzbistum Freiburg. 540 Menschen, die als Kinder sexualisierte Gewalt erlebten. Bischöfe, die Täter schützten, wie so oft in der katholischen Kirche. Es bleibt die Frage: Wo war eigentlich die Justiz? Hatte sie wirklich keine Chance einzugreifen?

Von Christina Zühlke und Selina Bölle

Bevor Matthias Katsch die Frage beantwortet, muss er erst einmal tief durchatmen. Erst dann kann er beschreiben, was die juristische Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in ihm auslöst. "Es ist eine Mischung aus Überdruss, Müdigkeit aber auch Zorn", sagt der 60-Jährige, der als Jugendlicher am Berliner Canisius-Kolleg sexuell missbraucht wurde.

Heute ist er Geschäftsführer des Vereins Eckiger Tisch, der die Interessen von Betroffenen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen vertritt. Und seit Jahren beobachtet er, wie schleppend die Ermittlungen gegen die Täter aus der Kirche voran gehen.

"Ich bin auch wütend, wenn ich sehe, dass ein ehemaliger Erzbischof und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz vorsätzlich Täter über Jahre, Jahrzehnte in Sicherheit gebracht hat, vor der Justiz versteckt hat." Matthias Katsch, Verein Eckiger Tisch

Täter sind tot, Taten verjährt

Mit diesem Gefühl ist Katsch nicht allein. Vor allem nach der Veröffentlichung des Freiburger Gutachtens und dem Skandal um einen pädophilen Priester im Bistum Trier. Warum sind von den vielen Missbrauchstätern in der katholischen Kirche so wenige verurteilt worden und angesichts der schweren Straftaten ins Gefängnis gekommen?

Der Kirchenrechtler Thomas Schüller aus Münster schreibt gerade ein Buch, in dem er auch den Umgang der Justiz mit der Kirche beleuchten will. Die meisten Taten seien verjährt, erläutert er im Gespräch mit dem WDR, viele Täter tot. Das seien die fatalen Folgen der Vertuschung. Was die Kirche erfolgreich vertuschte, konnten staatliche Ermittler auch nicht verfolgen. "Aber es zeigt sich auch, dass bis weit zur Jahrtausendwende die Staatsanwaltschaften sehr sanft mit den Kirchen umgegangen sind", sagt Schüller.

"Wenn ihr ihn nicht holt, holen wir ihn"

Schüller nennt auch ein Beispiel aus der Münsteraner Missbrauchsstudie: "Da ruft der Staatsanwalt den Bischof an und sagt: 'Wenn ihr ihn nicht holt, dann holen wir ihn'. Und dann hat natürlich der Bischof diesen Priester versteckt, der schon mehrfach Täter war."

Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Holm Putzke | Bildquelle: picture alliance / ZB

Der Passauer Jura-Professor Holm Putzke hat gemeinsam mit anderen Rechtswissenschaftlern vor Jahren versucht, die Staatsanwaltschaften zum Handeln zu zwingen. Nachdem die deutschlandweite sogenannte MHG-Studie 2018 offenbarte, wie viele Täter und Betroffene es in der Kirche gibt, erstatteten die Juristen Anzeige.

Keine Beweismittel mehr

Doch erst im Februar 2023 – fünf Jahre später – kam es zur allerersten Durchsuchung einer Bistumszentrale. Allerdings ohne Erfolg. "Das ist im Übrigen auch kein Wunder", sagt Holm Putzke dem WDR. "Wenn eine Institution weiß, dass jederzeit eine Durchsuchung droht, ist es unwahrscheinlich, dass Beweismittel noch aufbewahrt werden und freudestrahlend den Ermittlungsbehörden übergeben werden."

Putzke sagt, die Staatsanwaltschaften hätten ihren Auftrag verletzt: "Sie hätten, als die MHG-Studie im Jahr 2018 vorgelegt wurde, einen Anfangsverdacht bejahen müssen und sich nicht darauf beschränken dürfen, bei den Kirchen nachzufragen, ob diese doch so gnädig sind, die relevanten Akten herauszugeben."

Kein Generalverdacht

Gerd Hamme, Bund der Richter und Staatsanwälte NRW | Bildquelle: WDR

Das sei nicht so einfach, widerspricht Gerd Hamme vom Bund der Richter und Staatsanwälte in NRW. Es brauche immer einen Verdacht, um ermitteln zu dürfen. Es reiche nicht, "zu sagen, weil es da einmal stinkt, können die Staatsanwaltschaften jetzt weitergraben, da wird schon mehr sein."

Die meisten Bistümer haben der Staatsanwaltschaft die Akten zu Missbrauchsfällen mittlerweile übergeben. Aber ob diese vollständig waren, wurde nicht überprüft. Das sei rechtswidrig, sagen Juristen wie der Passauer Professor Holm Putzke.

Sind Betroffene chancenlos?

Welche Chance haben Betroffene überhaupt noch, wenn Taten verjährt und Täter tot sind? Zum einen fordern sie, dass Taten wirklich aufgeklärt und auch Verantwortliche benannt werden. Rechtlich gibt es im Erzbistum Köln zur Zeit einen Gerichtsprozess, bei dem ein Betroffener die Kirche als Institution verklagt: auf 800.000 Euro Schmerzensgeld. Weil die Verantwortlichen ihn als Kind nicht schützten. Wenn der Kläger Erfolg hat, könnten ähnliche Klagen folgen.

Justiz muss Betroffene im Blick haben

Der Kölner Jurist Prof. Stephan Rixen | Bildquelle: Imago / Metodi Popow

Der Kölner Jura-Professor Stephan Rixen glaubt, dass die Justiz heute härter durchgreift. Er wünscht sich allerdings, dass auch im Gerichtssaal die besondere Situation von Betroffenen zu einer Veränderung führt. Es brauche auch eine Debatte darüber, anhand welcher Methoden die Glaubhaftigkeit von Betroffenen gewürdigt werde: "Denn es muss ja auch eine Chance bestehen, dass die, die sich nicht so gut ausdrücken können, die vielleicht auch Schwierigkeiten haben über das Geschehene zu berichten, dass die trotzdem gehört werden."

Stephan Rixen und Holm Putzke waren diese Woche im Bayerischen Landtag eingeladen. Sie sollten die Abgeordneten beraten, wie Staat und Justiz in Sachen Kirche und Missbrauch besser handeln können. Im NRW-Landtag gab es vor einigen Wochen eine ähnliche Anhörung. Die Betroffenen, die als Kinder von Priestern missbraucht wurden, fordern schon seit vielen Jahren, dass Politik und Justiz sie im Kampf um Gerechtigkeit mehr unterstützen.

Über dieses Thema berichtet das WDR Fernsehen am 22.04.2023 in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.