Obwohl schon seit Jahren feststeht, dass tausende Kinder und Jugendliche seit Ende der 1940er Jahre von Geistlichen in der Katholischen Kirche misshandelt wurden, zog das in den meisten Fällen weder für die Täter noch für die Kirche selbst strafrechtliche Konsequenzen nach sich. In diesem Zusammenhang stehen vor allem die zuständigen Staatsanwaltschaften in der Kritik.
Eine aktuelle WDR-Recherche zeigt jetzt, dass die meisten Staatsanwaltschaften mittlerweile zwar Vorermittlungen eingeleitet und Kontakt mit den Bistümern aufgenommen haben. Bis Anfang 2023 hatte aber noch keine einzige Staatsanwaltschaft die Leitung eines Bistums durchsuchen lassen, wie die WDR-Umfrage unter allen für die 27 Bistümer zuständigen Staatsanwaltschaften ergeben hat. Die Begründung: Es habe keinen Anlass gegeben zu vermuten, dass die Kirche etwas verheimlichen würde.
Justizminister verteidigt Arbeit der Staatsanwaltschaften
Rückendeckung bekommen die Staatsanwaltschaften von ihrem obersten Dienstherrn, NRWs Justizminister Benjamin Limbach (Grüne). "Wir können leider mit den Mitteln, die der Rechtsstaat hat, dem Anliegen der Opfer nicht gerecht werden." Im Interview mit dem WDR 5 Morgenecho führt er mehrere Gründe an, warum in vielen Fällen nicht ermittelt werden kann. Wie stichhaltig diese Argumente sind, hat der Mainzer Strafrechtsprofessor und leitender Direktor des Instituts für Weltanschauungsrecht Jörg Scheinfeld für den WDR eingeordnet.
Ist der Justizminister gar nicht zuständig?
Schon zu Beginn des Interviews erklärt Justizminister Limbach, dass er beispielsweise zu den Fällen, die in der MHG-Studie auftauchten, nichts sagen könne. "Sie werden mir nachsehen, dass ich als Justizminister zu einzelnen Fällen kaum Stellung nehmen kann, ohne dann dort in die Rechte anderer Institutionen einzugreifen", so Limbach.
"Da macht es sich Herr Limbach etwas einfach", sagt Jörg Scheinfeld. "Wer, wenn nicht der oberste Dienstherr, kann die Ermittlungsbehörden anweisen, ihre Arbeit ordentlich zu erledigen?" Zudem gebe es bereits Fälle, in denen das NRW-Justizministerium interveniert habe. "Ein relativ aktueller Fall sind die Vergewaltigungen an einer Bielefelder Klinik", sagt der Strafrechtsprofessor. Dort hatte das Justizministerium das von der Staatsanwaltschaft Bielefeld eingestellte Verfahren überprüft und anschließend an die Staatsanwaltschaft Duisburg übergeben. "Das war ein Einzelfall, genau wie die Fälle in der MHG-Studie", sagt Scheinfeld.
Können Staatsanwaltschaften bei verjährten Taten nicht mehr ermitteln?
Ein weiteres Argument von Justizminister Limbach ist, dass die Fälle teilweise verjährt seien und mutmaßliche Täter verstorben. "Wir sehen das zum Beispiel jetzt auch bei den Vorwürfen gegen Kardinal Hengsbach, der schon seit Jahren tot ist", so Limbach. "Die Fälle betreffen Taten aus den 60er-Jahren, das heißt, sie sind auch alle verjährt. Das heißt, da haben wir einfach durch diese erst sehr späte Kenntnisnahme faktische Verfolgungshindernis."
Hier gibt Jörg Scheinfeld dem Justizminister im Grunde Recht. "Ziel der Staatsanwaltschaften ist ja eine Anklage", erklärt der Strafrechtler. "Wenn von vornherein feststeht, dass nicht angeklagt werden darf, weil der Verdächtige nicht mehr lebt, gibt es auch keinen Grund zu ermitteln." Scheinfeld kritisiert aber, dass das Verjährungs-Argument schon bei der Prüfung der Fälle genutzt wurde, um erst gar nicht zu ermitteln. "Aus der MHG-Studie ergeben sich durchaus Anfangsverdachte, weil die Studie Fälle schildert, die möglicherweise noch nicht verjährt sind." Doch diesen wurde gar nicht nachgegangen, so der Strafrechtler.
Haben die Staatsanwaltschaften keinen Hebel, weil der Missbrauch vertuscht wird?
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaften, einen möglichen Anfangsverdacht nicht zu verfolgen, sei der große Fehler gewesen, sagt Scheinfeld. Denn dadurch, dass die Staatsanwaltschaften keine Ermittlungen einleiteten, beschränkten sie selbst ihre Möglichkeiten. "Im Fall einer Ermittlung können die Staatsanwaltschaften die Bistümer durchsuchen, um Beweise aufzufinden", erklärt er. Weil aber nicht ermittelt wurde, konnten die Staatsanwaltschaften nur Anfragen an die Bistümer stellen. "Und diese konnten dann entscheiden, welche Informationen sie herausgeben und welche nicht", sagt Scheinfeld.
Ein Problem, das auch der Justizminister sieht. "Fakt ist jedenfalls, dass wir häufig keine Kenntnis bekommen haben von entsprechenden Fällen, weil solche Fälle innerhalb der Kirchen vertuscht worden sind und uns wichtige Informationen nicht weitergeliefert worden sind", so der Justizminister im Gespräch mit dem Morgenecho.
Scheinfeld wundert das nicht. "Das wäre, als ob man im Abgas-Skandal höflich bei VW angefragt hätte, ob das Unternehmen Unterlagen liefern könne, die es belasten, anstatt die Geschäftsräume zu durchsuchen", so der Strafrechtsprofessor.
Sollte die Aufklärung der Kirche überlassen werden?
Im Interview betonte Limbach, dass es ihn ungemein schmerze, wie die Kirchen, vor allem die offiziellen Seiten, mit dieser Missbrauchsproblematik umgingen. "Es ist für mich, für die Opfer, wirklich beschämend, wie schwer man sich damit tut, diese Missbrauchstaten aufzuklären von Seiten der Kirche. Und das besorgt mich wirklich sehr, weil die Leute das Vertrauen verlieren in wichtige Institutionen in diesem Land", so Limbach.
"Wenn Herr Limbach das ernst meint, soll er sich bitte für das Einrichten einer staatlichen Kommission stark machen, die die Fälle unabhängig untersucht", sagt Jörg Scheinfeld. Diese müsse dann aber auch von Seiten der Kirche mit dem Zugang zu allen benötigten Unterlagen ausgestattet werden. Möglichkeiten, dafür etwas Druck auf die Kirchen auszuüben, habe der Staat durchaus. "Die Kirche ist ja eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts mit besonderen Befugnissen aber auch Pflichten, wie beispielsweise einer besonderen Wahrheitspflicht", sagt Scheinfeld. "Wenn der Eindruck entsteht, dass die Kirche diesen Pflichten nicht nachkommt, kann der Staat auch darüber nachdenken, ihr die Sonderstellung zu entziehen."