Es war das erste Mal, dass etwas Licht ins Dunkel der Bistumsarchive fiel. Und was sichtbar wurde, sorgte für Entsetzen. Für die MHG-Studie haben unabhängige Wissenschaftler die Akten von 38.000 Geistlichen ausgewertet. Das Kürzel steht für die beteiligten Hochschulen Heidelberg, Mannheim, Gießen.
Das Ergebnis: Mehr als 1.600 mögliche Missbrauchstäter sollen mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben. Und das sei nur die oberste Spitze des Eisbergs, sagt der Leiter der Studie, Prof. Harald Dreßing. "Das wahre Ausmaß ist bei Missbrauch nach Schätzungen drei- bis viermal so hoch."
WDR-Recherche: Kaum Empfehlungen umgesetzt
Nach der Veröffentlichung der Studie sollte die eigentliche Aufarbeitung beginnen. Unabhängig und einheitlich. Dafür gaben die Autoren klare Empfehlungen. Heute, fünf Jahre später, ist aber kaum etwas davon umgesetzt worden. Das zeigt eine deutschlandweite Befragung des WDR der 27 Bistümer.
Nur elf Bistümer haben bisher eine eigene, umfassende, wissenschaftliche Studie veröffentlicht. Bei einigen ist das noch in Arbeit, andere verzichten ganz darauf oder beschränken sich auf Teil-Studien.
Im Bistum Münster forschten Historiker, in Essen Soziologen, in Aachen und Köln Juristen. Genausowenig vergleichbar wie die Schwerpunkte sind die untersuchten Zeiträume. In Köln sind es 43 Jahre, in Münster 75.
Es gebe also keinerlei Vergleichbarkeit, kritisiert Studienleiter Harald Dreßing. Zudem fehle immer noch die Transparenz, denn "auch hier dürfen nur Namen von Personen des öffentlichen Interesses genannt werden, also vor allem von Bischöfen". Andere mögliche Mitwisser blieben dagegen weiterhin geheim
Studienleiter fordert unabhängige Aufarbeitung
Besonders unverständlich ist für Harald Dreßing aber, dass die Aufarbeitung des Missbrauchs nicht von einer unabhängigen Kommission geleitet wird. "Es ist völlig weltfremd zu denken, dass man einer Institution, die erheblicher Taten beschuldigt wird, die Aufarbeitung dieser Prozesse selbst überlässt." Das sei, als würde man Straftätern selbst überlassen, ihre Straftaten aufzuklären.
Unverständnis seitens der Betroffenen
Patrick Bauer und Peter Kneipp wurden als Kinder über Jahre von Geistlichen sexuell missbraucht. Auf eine echte Aufarbeitung warten sie bis heute, sagt Peter Kneipp. "Sobald die Kirche allein das macht, kommt da nichts bei raus."
Der Staat müsse eine unabhängige Wahrheitskommission einrichten, ähnlich wie in Irland, sagt Harald Dreßing, aber, "da fehlt wohl bisher der politische Wille".
Bätzing: Kirchliche Aufarbeitung "noch nicht hinreichend"
Die Kirchen dagegen seien bereit, die Aufarbeitung in staatliche Hand zu geben, sagte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing dem WDR. "Wir verschließen uns dem überhaupt nicht, aber ich sehe bisher keine Initiative von politischer Seite, es zu übernehmen." Die kirchliche Aufarbeitung, gab Bätzing zu, sei "sicher noch nicht hinreichend".
Neues Gesetz soll Aufarbeitung regeln
Lars Castellucci von der SPD möchte einen gesetzlichen Rahmen für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs schaffen. Der Beauftragte für Kirchen im Bundestag gibt zu, “dass wir da zu nachlässig waren und zu viel vertraut haben, dass die Institutionen das schon machen.”
Das werde sich mit einem neuen Gesetz, das die Aufarbeitung regeln soll, ändern. Nicht nur in der Kirche, sondern auch in anderen Institutionen, wie Sportvereinen oder Schulen.
Es werde genaue Vorgaben geben für die untersuchten Zeiträume, Dauer, Methodik und Transparenz der Aufarbeitung, schreibt Lars Castellucci in einem Artikel für den Sammelband „Semper Reformanda“. Kontrollieren werde das eine unabhängige Kommission, die auch Sanktionen verhängen darf, beschreibt Castellucci. Der erste Entwurf soll noch in diesem Jahr vorgelegt werden.
Patrick Bauer und Peter Kneipp sind froh, dass die Politik sich endlich einmischen will, aber sie hätten sich gewünscht, dass es eine echte staatliche Aufarbeitung gibt, und nicht nur mehr Regeln für die Kirchen.
Über dieses Thema berichtet auch die Aktuelle Stunde am 03.10.2023 im WDR Fernsehen.