Seit Ende Oktober läuft die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen. Ziel des israelischen Militärs ist nach eigenen Angaben, die islamistische Terrororganisation Hamas komplett zu zerschlagen. Doch bei den Kämpfen werden auch immer wieder Zivilisten getötet. Tausende sollen schon ums Leben gekommen sein.
Wie kompliziert die Situation im Nahen Osten aktuell ist, zeigt der Aufruf der EU von Sonntagabend, in dem sie Israel auffordert, "größtmögliche Zurückhaltung zu üben, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten".
EU mahnt Hamas zur Einhaltung des Völkerrechts
Gleichzeitig verurteilte die Europäische Union den Einsatz von Krankenhäusern und Zivilisten als Schutzschilde durch die islamistische Hamas. Das humanitäre Völkerrecht sehe vor, dass Krankenhäuser, die medizinische Versorgung und die Zivilisten in den Krankenhäusern geschützt werden müssten, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
So sieht es auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das weltweit die Einhaltung des Kriegsrechts überwacht. Demnach besteht ein "bewaffneter Konflikt" zwischen Israel und dem militärischen Arm der Hamas. Israel habe daher zwar das Recht sich selbst zu verteidigen, müsse dabei aber die größtmögliche Schonung der Zivilbevölkerung und die Verhältnismäßigkeit als Grundsatz einhalten.
Zwar erkennt das humanitäre Völkerrecht Opfer in der Zivilbevölkerung als sogenannte Kollateralschäden eines bewaffneten Konflikts an, diese "müssten aber verhältnismäßig zum erzielten militärischen Vorteil sein. Die Zerstörung eines großen Militärflughafens rechtfertigt demnach mehr zivile Opfer als der Angriff auf eine kleine militärische Stellung", sagt Anna Petrig, Völkerrechts-Expertin der Universität Basel.
Warum ist ein Einsatz im Gazastreifen so schwierig?
Genau diese Verhältnismäßigkeit gestaltet sich aber schwierig. Denn nach Angaben der israelischen Armee nutze die Hamas die Krankenhäuser als Verstecke und für Angriffe auf die israelischen Truppen. Die Folge: Seit Freitag konzentrieren sich die Kämpfe im Gazastreifen immer stärker auf die Umgebung von Krankenhäusern, vor allem in Gaza-Stadt.
Zudem bereite das unterirdische Tunnelsystem, das die Hamas errichtet hat, dem israelischen Militär Probleme, sagt Ulrich Schlie, Sicherheits- und Strategieforscher am Institut für politische Wissenschaften an der Universität Bonn. Beim Häuserkampf im dicht besiedelten Gebiet von Gaza werde es zwangsläufig zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kommen, so Schlie.
Wie ist die aktuelle Lage im Gazastreifen?
Die Beurteilung der aktuellen Lage im Gazastreifen ist schwierig. Denn die Berichte darüber stammen meist von einer der beiden Kriegsparteien. Am Montag berichtete die Hamas-Regierung, dass wegen der Angriffe der israelischen Armee kein Krankenhaus im Norden des Gazastreifens mehr arbeitsfähig sei.
Israel hingegen sagt, dass die Angriffe beispielsweise auf das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt nicht vermeidbar seien, weil sich darunter eine Kommandozentrale der Hamas befände. Dieser Darstellung wiederum widersprechen Hamas und auch die Ärzte in der Klinik.
Schilderungen und Berichte aus dem Al-Schifa-Krankenhaus klingen verzweifelt - so viel steht fest. "Ich habe mit einem Kollegen meiner Fachabteilung am Freitag gesprochen", erzählt der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg Dr. Walid Ayad aus Münster, der zuletzt 2020 mit der Hilfsorganisation Hammer Forum das Al-Schifa besuchte, um dort Kinder zu behandeln. "Er sagte mir: 'Walid, wir sind am Ende, wir sind müde. Wir können nicht mehr.'"
Ayad wundert das nicht. Obwohl die Ärzte im größten Krankenhaus des Gazastreifens schon viel gesehen hätten, sei die aktuelle Situation dort noch belastender. "Ich erinnere mich an meine Zeit als Assistenzarzt in Recklinghausen", so der Chrirurg. "Wenn ein Schwerverletzter kam, dann haben wir das Krankenhaus bei der Feuerwehr abgemeldet. Das muss man sich mal vorstellen."
Verbietet das Völkerrecht die Nutzung von Krankenhäusern als Tarnung?
Tatsächlich sind laut dem humanitären Völkerrecht einige Kriegslisten explizit erlaubt. Dazu gehört beispielsweise "Scheinstellungen, Scheinoperationen und irreführende Informationen", um den Gegner zu täuschen. Auch Tarnung ist eine erlaubte Kriegslist.
Allerdings verbietet das Völkerrecht "das Vortäuschen eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus sowie das Vortäuschen eines geschützten Status". Und genau darunter fällt das Nutzen sogenannter Sanitätszonen und -orte wie Krankenhäuser und Kliniken. "Sie müssen so weit wie möglich von jedem militärischen Objekt entfernt sein und außerhalb der Regionen liegen, die für die Durchführung militärischer Operationen von Bedeutung sein können", heißt es dazu im humanitären Völkerrecht.
Welche Konsequenzen hätten Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht?
Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag kann ein Staat einen anderen wegen Verstößen gegen das Völkerrecht verklagen. Aber: Israel hat sich dem Gerichtshof nicht unterworfen und Palästina wird noch nicht einmal als Staat anerkannt.
Einzelne Personen, also Kriegsverbrecher, können vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, der auch in Den Haag sitzt. Die Statuten, die Kriegsverbrechen regeln, wurden von Israel nicht anerkannt, von Palästina schon. Der Strafgerichtshof kann also ermitteln, wenn im Gazastreifen Kriegsverbrechen geschehen, aber auch wegen der Kriegsverbrechen der Hamas in Israel.
Über dieses Thema berichteten wir am 13. November 2023 auch im WDR-Hörfunk im WDR 5 Morgenecho.
Unsere Quellen:
- dpa
- WDR 5 Morgenecho
- Tagesschau
- Humanitäres Völkerrecht
- Hamas
- Israelisches Militär
Konfliktparteien als Quelle
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Stellen der palästinensischen und der israelischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.