"Remigration": Der Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben
Stand: 29.01.2025, 17:33 Uhr
Der Begriff "Remigration" schaffte es vom Unwort des Jahres in ein Wahlprogramm zur Bundestagswahl. Wie sich eine Debatte verschiebt - und was das mit der Gesellschaft macht.
Von Sabine Schmitt
Innerhalb eines Jahres hat ein Begriff eine verstörende Karriere gemacht: Los ging es mit Berichten über ein Geheimtreffen hochrangiger AfD-Politiker mit Neonazis in Potsdam, bei dem sie Ideen zu millionenfachen Abschiebungen durchspielten. Hunderttausende Menschen gingen danach deswegen auf die Straße. Dann wurde "Remigration" zum Unwort des Jahres 2023 gekürt - und seit dem AfD-Parteitag am 11. und 12. Januar 2025 in Riesa steht es im Wahlprogramm der Partei. Unter dem Jubel ihrer Anhänge verkündete AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel:
Auch vier Wochen vor der Bundestagswahl 2025 gingen Zehntausende in Deutschland gegen den Rechtsruck in der Migrationspolitik und gegen die Normalisierung rechter Positionen und Begriffe wie "Remigration" auf die Straße. Der Protest richtete sich diesmal nicht nur gegen die AfD. Auch CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz steht in der Kritik wegen eines Gesetzentwurfes der Union zur Verschärfung der Migrationspolitik. Auch wenn der Begriff "Remigration" nicht in den Entwürfen und im Wahlprogramm der CDU auftaucht, so verschärft sich der Diskurs.
Aus der Forschung zum rechten Kampfbegriff
"Remigration" - der Begriff selbst hat eine lange Geschichte: Ursprünglich beschrieb er die freiwillige Rückkehr von Menschen in ihr Heimatland. Wissenschaftler verwendeten ihn in der Migrations- und Exilforschung. Seit Mitte der 2010er Jahre nutzen ihn rechtsextreme Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung gezielt anders: als beschönigenden Begriff für die Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen. Gemeint ist die massenhafte Abschiebung nicht nur von abgelehnten Asylbewerbern, sondern auch von Deutschen mit Migrationshintergrund.
"Ein gefährlicher Prozess"
Publizistin Gilda Sahebi
Die Publizistin Gilda Sahebi ist Rassismusexpertin und beschäftigt sich in ihrem Buch "Wie wir uns Rassismus beibringen" mit rechtem Framing und der AfD. Sie kritisiert, dass sich andere Parteien zwar von der AfD distanzieren, aber problematische Tendenzen dennoch sichtbar seien. Die CDU gehe "geschickter" vor. Die CDU nutze das Wort "Remigration" nicht, verstecke aber unter dem Aspekt der Sicherheit, was die AfD ausspricht. "Sie will halt sozusagen zeigen, wir sind übrigens auch hart gegen Ausländer". Dies sei ein gefährlicher Prozess. Sahebi befürchtet eine Normalisierung solcher Inhalte, und dadurch auch von Begriffen wie "Remigration". Anders formuliert: Dass dieser zunehmend gesellschaftsfähig wird.
Rhetorikprofessor Olaf Kramer
Die Unschärfe von Begriffen wie "Remigration" sei dabei eine bewusste Strategie, sagt der Tübinger Rhetorikprofessor Olaf Kramer, der zu Kommunikationsstrategien und dem Verhältnis von Manipulation und Verständigung forscht. Kramer erklärt, der Begriff "Remigration“ sei bewusst als "sehr sachlich abstrakt" gewählt worden, um die dahinterliegende feindliche Politik zu verschleiern. Von ausreisepflichtigen Menschen über Geflüchtete bis hin zu Deutschen mit Migrationshintergrund - wer genau gemeint ist, bleibe oft absichtlich unklar.
Erst Provokation, dann gewöhnt man sich dran
"Begriffe sind eine Form, Politik zu machen, weil sie Realität erzeugen", erklärt Kramer. Er spricht von einen systematischen Prozess: Neue Begriffe entstehen zunächst in kleinen sozialen Gruppen wie Parteien. Finden sie dort Anerkennung, beginnt ihre Ausbreitung. "Es funktioniert oft so, dass man zuerst etwas als sehr starke Provokation wahrnimmt und dann gewöhnt man sich sozusagen an den Gedanken."
Die Kölner Aktivistin Glenda Obermuller, Mitgründerin mehrerer afro-diasporischer Netzwerke und seit über zwanzig Jahren Beobachterin gesellschaftlicher Entwicklungen in Deutschland, erkennt eine systematische Verschiebung von Grenzen seit über zwei Jahrzehnten. Als sie 2003 aus Guyana im Norden Südamerikas nach Deutschland kam, erlebte sie ein weltoffenes Land: "Jeder wollte mit mir Englisch sprechen. Ich fühlte mich direkt willkommen."
Im Land hat sich etwas verändert
Die deutschen Nationalfarben stammen aus Befreiungskriegen.
Die Fußball-WM 2006 markierte für Obermuller einen Höhepunkt deutscher Weltoffenheit. Doch bei der WM 2014 registrierte sie einen dramatischen Wandel: "Im Hauptbahnhof hat jemand angefangen zu singen: 'Deutschland über alles.'“ Ab da habe sich im Land etwas verändert. "Das war genau dieser Zeitpunkt. Da haben Menschen angefangen, offene, rechte Parteien zu unterstützen", sagt sie.
Die einen gegen die anderen ausspielen
So eine Verschiebung habe System, sagt Kramer. Zunächst würden Gruppen gegeneinander ausgespielt, dann Ängste geschürt.
Einzelereignisse wie der Anschlag in Aschaffenburg, bei dem ein psychisch kranker Afghane einen Mann und ein Kind tötete, würden dabei instrumentalisiert. Ein Beispiel für so einen Fall ist aber auch der Anschlag von Magdeburg im Dezember, wo ein Mann aus Saudi-Arabien einen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt verübte, bei dem sechs Menschen starben. Rechte Gruppierungen demonstrierten kurze Zeit später in Magdeburg mit einem Transparent mit der Aufschrift "Remigration".
Auf gepackten Koffern
Die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren hat schon konkrete Auswirkungen. "Ich führe ganz viele Gespräche mit Leuten, die sagen: Wir können ja nicht bleiben", berichtet Sahebi. Sie habe bereits Leute kennengelernt, die gesagt haben: "Wir bereiten schon unsere Ausreise vor."
Für die Schwächsten werden Hass und Rassismus im Land zum Problem - und sie haben Ängste, bis hin zum Wunsch, Deutschland zu verlassen. Doch nicht jeder kann das Land einfach so verlassen und sich woanders ein neues Leben aufbauen. "Die Menschen, die das nicht schaffen werden, das sind die Menschen ohne Pässe. Auch Menschen mit Behinderungen, die das gar nicht schaffen werden, so schnell rauszukommen", sagt Obermuller.
Wo sind die Kirchen und die Gewerkschaften?
Besonders besorgniserregend sei die Entwicklung, weil sie nicht auf die AfD beschränkt bleibe, analysiert Sahebi. Wenn andere Parteien sich zwar von der AfD distanzieren, aber ähnliche Positionen in mit anderen Worten vertreten würden, verstärke das den Prozess der Normalisierung. Das liege auch daran, dass es "natürlich reale Probleme gibt in Deutschland. Und das ist sozusagen das reale Fundament, auf dem dann eine autoritäre Kraft kommt und diese zu Recht bestehende Unzufriedenheit aufnimmt."
Die Aktivistin Obermuller fordert ein gesellschaftliches Bündnis: "Martin Luther King ist damals nicht alleine auf Washington marschiert. Er marschierte mit großer Unterstützung von Zivilgesellschaften, von Kirchen, von Gewerkschaften." Diese Kräfte vermisst sie heute, fragt sich, wo diese Organisationen knapp vier Wochen vor der Bundestagswahl seien.
In der aktuellen Debatte um CDU/CSU-Anträge zur Migration haben sich zumindest die Vertreter der beiden großen Kirchen zu Wort gemeldet. In einem Brief an die Unionsparteien äußern die Berliner Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz ihr Befremden über "Zeitpunkt und Tonlage" der Debatte, die dazu geeignet sei, "alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren".
Gesellschaftliche Spaltung überwinden
Viele Migranten arbeiten in der Pflege
Wie dringend Deutschland auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf Migration angewiesen ist, zeigt sich für Obermuller zum Beispiel in der Pflege oder im Gesundheitswesen, das ohne Migration kollabieren würde.
Nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt durch den Mann aus Saudi-Arabien positionierte sich deshalb das Klinikum der Stadt gegen Fremdenfeindlichkeit. In einem Posting bei Instagram schrieb das Klinikum nach dem Anschlag: Das Krankenhaus wäre ohne die Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern von heute auf morgen dicht. "Wir hätten also nicht helfen können, als es darauf ankam. Wir hätten die Erwachsenen und Kinder nicht retten können."
Solche Positionierungen sind entscheidend, denn gesellschaftliche Spaltung überwindet sich nicht von selbst, sagt Kramer. Und sie träten immer wieder auf.
Nicht auf Selbstregulierung vertrauen
Kramer sagt: "Polarisierungswellen haben historisch betrachtet immer auch ein Ende." Der Rhetorikprofessor warnt aber davor, auf diese Selbstregulierung zu vertrauen oder zu warten. Das, was im Dritten Reich und unter der Herrschaft der Nazis passiert ist, sei ein Beispiel dafür, wie schlimm es kommen kann, wenn eine Regulierung beziehungsweise eine gesellschaftliche Gegenbewegung zu spät kommt.
Der Schlüssel liege gerade auch jetzt darin, respektvoll zu bleiben, miteinander zu sprechen, Gemeinsamkeiten zu betonen, so Kramer. Das gelte auch für Menschen, die unterschiedliche Meinungen haben - bevor aus verschobenen sprachlichen Grenzen gesellschaftliche Gräben werden, die sich nicht mehr überbrücken lassen.
Unsere Quellen:
- Interview mit Glenda Obermuller
- Interview mit Rhetorikprofessor Olaf Kramer von der Uni Tübingen
- WDR 5 Interview mit Rhetorikprofessor Olaf Kramer von der Uni Tübingen
- WDR 5 Interview Publizistin und Rassismusforscherin Gilda Sahebi
- Nachrichtenagentur dpa