Menschen gehen über das Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt (2023).

Merz-Pläne: Migrationsforscher Knaus sieht Gefahr einer EU-Krise

Stand: 29.01.2025, 17:53 Uhr

Das Thema Flucht und Asyl erhitzt den Bundestagswahlkampf. Doch wie sind die aktuellen Migrationsbewegungen einzuordnen? Und wie sinnvoll sind vor diesem Hintergrund die Pläne von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz? Antworten gibt Migrationsforscher Gerald Knaus.

Bis zur Bundestagswahl ist es keinen Monat mehr hin - und wieder einmal stehen in Deutschland die Migrationspolitik und das Asylrecht im Zentrum hitziger Debatten. Die Union um Kanzlerkandidat Friedrich Merz will noch vor der Wahl am 23. Februar die Gesetzgebung zur Migration verschärfen. Dafür nimmt sie auch Mehrheiten mit der AfD in Kauf.

Am Mittwochnachmittag hat sich der Bundestag für mehr Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen ausgesprochen. Ein entsprechender Antrag der CDU/CSU-Fraktion fand eine Mehrheit. Ein zweiter Antrag der Union mit umfassenden Reformvorschlägen für eine restriktive Migrationspolitik und zusätzliche Befugnisse der Sicherheitsbehörden wurde abgelehnt.

Am Freitag will die Union ihren Entwurf für ein "Gesetz zur Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland" zur Abstimmung stellen. Es soll den Familiennachzug zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus beenden.

Wie aber sind die aktuellen Migrationsbewegungen nach Deutschland grundlegend einzuordnen? Eine Einschätzung gibt der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus im WDR-Interview. Der 55-Jährige ist Mitgründer und Vorsitzender der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative". Er berät Regierungen zum Thema Migration und Flucht.

Migrationspläne der Union: Eine Einordnung

WDR 5 Morgenecho - Interview 29.01.2025 08:08 Min. Verfügbar bis 29.01.2026 WDR 5


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WDR: Laut des ARD-Deutschlandtrends halten 37 Prozent der Deutschen derzeit Zuwanderung für eines der beiden wichtigsten politischen Probleme. Wie herausgefordert sehen Sie Deutschland bei der Migration?

Gerald Knaus, österreichischer Soziologe, Migrationsforscher und Gründer der Berliner Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative".

Migrationsforscher Gerald Knaus

Gerald Knaus (Migrationsforscher): Es gibt zwei Ebenen der Herausforderung. Das eine ist die Zahl der Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, Asyl beantragt haben und auch Schutz erhielten. Die war eine Rekordzahl. In den letzten 30 Jahren waren die fünf Jahre mit den meisten Asylanträgen 2015, 2016 und die vergangenen drei Jahre. Das vergangene Jahr war unter den letzten 30 Jahren das vierte Jahr mit 250.000 Anträgen. Es sind Rekordzahlen.

Deutschland ist an der Spitze der Schutzvergabe in der EU - nur hinter Österreich pro Kopf in den letzten zehn Jahren. Dazu kommen natürlich noch die ukrainischen Flüchtlinge. Also objektiv ist die Herausforderung historisch.

Das Zweite ist die Lage in der Bevölkerung. Die Umfragen zeigen uns seit über einem Jahr, dass das ein großes Thema ist und dass 80 Prozent oder 75 Prozent schon vor Monaten gesagt haben, sie wollen unbedingt eine Änderung. Politisch ist das ein enormer Druck auf alle Verantwortlichen, nicht nur zu reden, sondern auch etwas zu tun.

WDR: Aber die Zuwanderung nach Deutschland ist doch im vergangenen Jahr zurückgegangen?

Knaus: Ja, das ist das Joe-Biden-Argument - und das hat ihm im US-Wahlkampf nichts genutzt. Denn auch die Zuwanderung, die zurückgegangen ist, ist zurückgegangen von einem extrem hohen Niveau. Wenn 2023 350.000 Menschen - mehr als in jedem Jahr seit 2016 - einen Antrag stellen und dann geht es auf 250.000 zurück, ist das ein Rückgang. Aber 250.000 ist immer noch eine unglaublich hohe Zahl.

Die andere Frage ist, warum ist sie zurückgegangen? Hier kommen wir schon in die Diskussion über die Maßnahmen, und hier wird es widersprüchlich. Denn die einen sagen, es ist zurückgegangen wegen der deutschen Kontrollen an den Grenzen zu den Nachbarn. Die gibt es an der Grenze zu Österreich schon seit Langem, an den anderen Grenzen noch nicht so lange. Aber die Zahl ist parallel auch in Österreich zurückgegangen. Und dort gab es keine neuen Grenzkontrollen.

Aber wie gesagt: Der Trend in den letzten drei Jahren war eindeutig. Es gibt immer noch Hunderttausende im Jahr, die in die EU kommen. Und von denen, die einen Asylantrag stellen, stellen die meisten den Asylantrag in zwei Ländern. Die Binnengrenzkontrollen, würde ich sagen, werden das auch nicht wirklich reduzieren - nach den Erfahrungen von Frankreich, Österreich und anderen Ländern, die diese Kontrollen seit Jahren haben.

WDR: Kommen wir auf die Forderungen von Friedrich Merz zu sprechen. Zum Beispiel dauerhafte Kontrollen an deutschen Grenzen, Einreiseverbot für Menschen ohne gültige Einreisedokumente, Inhaftnahme aller vollziehbarer ausreisepflichtiger Ausländer. Einiges davon wird kritisiert, weil es gegen geltende Gesetze oder Regelungen im europäischen Zusammenhang verstößt. Für wie machbar halten Sie diese Vision der undurchlässigen Grenze?

Knaus: Die eine Frage ist die Machbarkeit praktisch. Da ist der Vorstoß wirklich nicht besonders überzeugend. Es wird zum Beispiel gesagt, man braucht tausende Polizisten mehr, um auch nur ansatzweise an einer ja offenen Schengen-Grenze den Anspruch erfüllen zu können, dass Leute, die man einmal zurückweist, es nicht am nächsten Tag an einer anderen Stelle wieder probieren.

Nun, die Polizeiausbildung ist nicht eine Sache von Wochen. Und diese tausenden Polizisten hat man nicht in einem halben Jahr. Diese Vorstellung, wir schließen jetzt die Grenze und das wirkt, widerspricht allem, was wir in den letzten zehn Jahren in Europa gesehen haben.

Das Versprechen, langfristig oder dauerhaft Grenzkontrollen zu machen, was im ersten Punkt des Fünf-Punkte-Plans steht, übersetzt man ganz klar: Wir wollen aus Schengen austreten, denn dauerhafte Grenzkontrollen gibt es in Schengen nicht. Man kann immer nur temporär, man kann verlängern. Will Deutschland aus Schengen austreten? Dann ist es nicht das einzige Land - und da komme ich jetzt zur Erklärung einer Notlage.

Man erwartet hier in Deutschland einen Domino-Effekt. Den erwarte ich auch. Allerdings wäre der, dass andere Länder auch Notlagen erklären. Wenn andere Länder, so wie Ungarn es schon mal getan hat, sagen: Wir haben eine Notlage, zum Beispiel Österreich in der nächsten Regierung. Wir haben zu viele Asylanträge, pro Kopf mehr als Deutschland. Wir erklären eine Notlage und bei uns kann man keinen Antrag mehr stellen. Dann wird der Druck auf Deutschland wachsen.

Also wenn in ganz Europa das Schengen-Recht, das Dublin-Recht, alle Standards zusammenbrechen, weil jedes Land jetzt erklärt: Die Polen sagen, wir haben zu viele Ukrainer - mehr als die Deutschen. Die Tschechen sagen das Gleiche. Dann bricht das EU-Recht insgesamt zusammen. Sehr, sehr schnell. Alle sagen, das ist nicht anwendbar. Und dann haben wir eine Situation. Ob die Deutschland nützt, glaube ich, hat noch niemand analysiert.

WDR: Und es gibt ja auch Leute, die sagen, konsequenterweise muss man dann überlegen, ob man als Deutschland tatsächlich noch Teil der Europäischen Union sein will, wenn man diesen Weg anstrebt.

Knaus: Also es gibt in Deutschland einen großen Konsens. Ich habe keinen Zweifel, dass die Union natürlich als Europapartei in der EU bleiben will. Aber die Gefahr, die ich sehe, ist, dass man hineinstolpert in eine Situation. Denn es gibt Parteien - ich meine, die FPÖ in Österreich ist eine Öxit-Partei, die will den Austritt aus der EU. Aber die erreichen ihn nicht direkt, weil die Mehrheit das nicht will. Aber wenn das EU-Recht zusammenbricht (…), wenn man jetzt sagt: Wir setzen das einfach aus, weil es geht nicht - mit guten Gründen -, es funktioniert nicht, anstatt es europäisch ändern zu wollen. Dann werden das alle Länder machen, auch in anderen Bereichen.

Und in einer Situation, wo Feinde der EU in vielen Ländern die Chance haben, Wahlen zu gewinnen, an die Macht zu kommen, kann es sehr schnell gehen, dass das, was die EU zusammenbindet, nämlich das gemeinsam gemachte Recht, sich einfach auflöst. Und dann ist die EU ohne großen, spektakulären Austritt vor der größten Existenzkrise in ihrer Geschichte.

Bednarz (CDU): Migrationspläne von Merz "unausgegoren"

WDR 5 Morgenecho - Interview 29.01.2025 09:15 Min. Verfügbar bis 29.01.2026 WDR 5


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Das Interview führte Rebecca Link im WDR 5 Morgenecho. Für die Online-Fassung wurden einzelne Passagen gekürzt oder sprachlich angepasst, ohne die inhaltlichen Aussagen zu verändern.

Unsere Quellen:

  • WDR-Interview mit Migrationsforscher Gerald Knaus
  • Tagesschau-Artikel zum Streit um Migrationspolitik

Über dieses Thema berichtet der WDR am 29.01.2025 auch im Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.