Deutschland und die Atomwaffen – müssen wir aufrüsten?

Aktuelle Stunde 06.03.2025 30:12 Min. UT Verfügbar bis 06.03.2027 WDR Von Marius-Antonius Brüning

Militärexperte: Atommacht Frankreich kann Deutschland schützen

Stand: 06.03.2025, 19:48 Uhr

In Europa wird über einen eigenen atomaren Schutzschirm diskutiert, um Russland wirksam abschrecken zu können. Das dürfte ohne die USA aber schwer werden.

Seitdem die USA jüngst bei mehreren Anlässen eine Distanz zu den europäischen Demokratien erkennen ließen, sind bei den Nato-Partnern in Europa Zweifel an der Bündnistreue ihres wichtigsten militärischen Partners aufgekommen. Auf dem alten Kontinent ist mittlerweile sogar eine eigene atomare Abschreckung Thema - für den Fall, dass die US-Amerikaner ihren nuklearen Schutzschirm nicht mehr aufspannen.

Macron forciert "strategische Debatte" über Abschreckung

Zum Thema machte dies Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, indem er als Reaktion auf den Kurswechsel in der US-Außenpolitik seine Überlegungen zu einer gemeinsamen nuklearen Abschreckung bekräftigte. CDU-Chef Friedrich Merz - auf bestem Wege, neuer Kanzler in Deutschland zu werden - hatte bereits vor seinem Wahlsieg gesagt, man müsse mit den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich über nukleare Teilhabe oder zumindest nukleare Sicherheit reden.

Diesen Ball nahm Macron nun auf, nachdem US-Präsident Donald Trump die Militärhilfen für die Ukraine vorerst eingestellt und sich dem russischen Aggressor weiter angenähert hat. Die Zweifel an der Verlässlichkeit der USA sind in Europa größer geworden. Er wolle "die strategische Debatte über den Schutz unserer Verbündeten auf dem europäischen Kontinent durch unsere Abschreckung" eröffnen.

Portrait von Fabian Hinz vom IISS

Fabian Hinz vom IISS

Die USA haben die nukleare Teilhabe bis dato nicht in Frage gestellt, und der noch amtierende Kanzler Olaf Scholz (SPD) verwies am Donnerstag auf das bestehende Nato-System der nuklearen Abschreckung, das auf den Atomwaffen der USA basiert. Wie diese Abschreckung funktioniert und ob sie ohne die Amerikaner überhaupt möglich wäre, erklärt Fabian Hinz, Militärexperte vom International Institute for Strategic Studies (IISS), im WDR-Gespräch.

Konzepte werden keinem Realitätscheck unterworfen, und deswegen können Sie nie genau sagen, was macht tatsächlich Sinn und was nicht. Fabian Hinz über die atomare Abschreckung

"Der Grundgedanke hinter der nuklearen Abschreckung ist, dass man jeden Angriff auf das eigene Land, der entweder selber nuklear ist oder existenziell für die Sicherheit des eigenen Landes sein könnte, abschrecken kann durch die glaubwürdige Drohung eines nuklearen Gegenschlages", so Hinz. Dabei spielten "psychologische Komponenten" eine große Rolle, sprich potenzielle Angreifer müssen diese Drohung ernst nehmen.

Geschätztes weltweites Atomwaffenarsenal

Die große Frage sei, ob dies ohne US-Hilfe möglich wäre. Kann beispielsweise das von Wladimir Putin regierte Russland, das viele Europäer nach dem Angriff auf die Ukraine als unberechenbaren Aggressor betrachten, ohne in Europa stationierte amerikanische Atomwaffen wirksam davon abgehalten werden, Nato-Länder in Europa anzugreifen?

Militärexperte Hinz hält französische Abschreckung für möglich

Die europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien verfügen zusammen nicht annähernd über so viele Atomwaffen wie die USA oder Russland. Trotzdem hält der Militärexperte eine Abschreckung für möglich: Die laut Sipri rund 290 nuklearen Sprengköpfe der Franzosen seien "rein technisch gesehen durchaus ausreichend", um einen etwaigen Ausfall des US-Schutzes in Deutschland zu kompensieren, sagt Hinz.

Eine Weiterverbreitung von Atomwaffen in der Welt ist auch nicht im deutschen Interesse. Fabian Hinz, Militärexperte

Die entscheidende Frage sei, ob Frankreich im Ernstfall wirklich bereit sei, "seine eigene Existenz für die Sicherheit Deutschlands zu riskieren". Der jetzige Präsident Macron mag dies befürworten, aber unter der rechtsnationalen Marine Le Pen sähe das wohl anders aus. Sicherheitsexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München hat im heute journal des ZDF gesagt, dass solche Pläne unter ihr "sofort vom Tisch" wären.

Drei Optionen für Schutz durch Frankreich

Trotzdem sei die Diskussion über einen europäischen Schutzschirm "sehr sinnvoll" und "überfällig". Diesen schnell aufzuspannen ist laut Sauer "nicht möglich", was nicht nur an der Zahl, sondern auch an der Art der Atomwaffen liege. Die beiden europäischen Partner verfügten über "strategische Dispositive", mit denen sich "inakzetabler Schaden" an militärischen Knotenpunken sowie in der Wirtschaft und Logistik anrichten ließe. Taktische Waffen für das Gefechtsfeld hätten sie keine. Man müsse einem potenziellen Angreifer aber signalisieren, dass man auf allen Ebenen fähig sei "Schaden auszuteilen", damit er erst gar keinen Krieg anfange.

Hinz ist jedoch davon überzeugt, dass das vorhandene Arsenal trotzdem abschrecken und als Schutzschirm für Deutschland funktionieren könnte. So würden die Russen die Bereitschaft der Franzosen eventuell ernster nehmen als die der Amerikaner, weil Frankreich kein Ozean von Deutschland trennt. Der IISS-Experte sieht drei Optionen für einen französischen Schutzschirm über Deutschland:

  • Sicherheitsgarantien, sprich Frankreich verpflichtet sich einen "existenziellen Angriff" auf den Partner nuklear zu vergelten
  • Frankreich stationiert nuklear bewaffnete Flugzeuge in Deutschland
  • Eine nukleare Teilhabe nach amerikanischem Modell (Deutsche Kampfflugzeuge tragen französische Sprengköpfe)

Letzteres sei indes unwahrscheinlich, weil Frankreich dafür Souveränität aufgeben müsse und die nukleare Abschreckung seit jeher als "nationale Fähigkeit" betrachte. Noch viel unwahrscheinlicher sei, dass Deutschland sich selbst atomar bewaffne, da man im Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 einen Verzicht auf den Besitz von Atomwaffen unterzeichnet hat. Dieser Vertrag enthält keine Kündigungsklausel.

Im Fliegerhorst Büchel sollen US-Atomwaffen lagern

Eine eigene Atomwaffe wäre zwar die "ultimative Sicherheitsgarantie", hätte aber unvorhersehbare sicherheitspolitische Konsequenzen: "Es gibt viele Staaten auf der Welt, die rein theoretisch Atomwaffen herstellen könnten und sich dagegen entscheiden haben", sagt Hinz. Sollte Deutschland sie entwickeln, könnte das eine Spirale auslösen oder beschleunigen, die möglicherweise auch die Sicherheit Deutschlands gefährde.

Deutschland ist für die atomare Abschreckung also auf Partner angewiesen. Derzeit sind dieser Partner die USA, die Expertenschätzungen zufolge etwa 100 Atombomben in Europa stationiert haben. Einige davon sollen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern und können im Ernstfall von Kampfjets der Bundeswehr eingesetzt werden. Ob Frankreich oder Großbritannien diesen Partner irgendwann ersetzen müssen, ist derzeit völlig offen.

Unsere Quellen:

  • Gespräch mit Fabian Hinz vom International Institute for Strategic Studies (IISS)
  • Interview mit Dr. Frank Sauer, Universität der Bundeswehr in München, im ZDF heute journal
  • Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages
  • SIPRI-Jahrbuch 2024
  • Federation of American Scientists
  • Nachrichtenagentur dpa

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