Ein Hubschrauber der Royal Air Force fliegt über dem Gelände des Kernkraftwerks von Windscale am 20.10.1957.

10. Oktober 1957 - Reaktorunfall im britischen Windscale

Der erste große Reaktorunfall ereignet sich nicht in Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima - sondern im britischen Windscale, heute bekannt als Sellafield. Lange versucht die britische Regierung den massiven Störfall am 10. Oktober 1957 zu vertuschen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Großbritannien traumatisiert von Hitlers Luftangriffen. Man will nie mehr so schutzlos sein. Die Lösung der Regierung sind Atomwaffen, und zwar um jeden Preis.

Auf die Hilfe der alliierten USA dürfen die Briten dabei nicht hoffen, 1946 verbietet der amerikanische Kongress die Weitergabe nuklearer Geheimnisse. Also muss man selbst aktiv werden und gründet die Atomanlage Windscale an der Küste der Irischen See. Mit tausenden von Arbeitern zieht man dort ab 1947 in nur drei Jahren und mit mangelhaften Nuklearkenntnissen einen Kernreaktor hoch. Großbritannien will keine Zeit verlieren.

Die heillose Überforderung zeigt sich etwa dadurch, dass Filter gegen radioaktive Partikel in der Abluft beinahe vergessen werden. Außerdem entscheiden sich die Konstrukteure von Windscale - anders als bei den Atommeilern in den USA - gegen eine Wasserkühlung. Stattdessen kommen riesige Kühlgebläse zum Einsatz.

Der Reaktorunfall im britischen Windscale (am 10.10.1957)

WDR Zeitzeichen 10.10.2022 14:23 Min. Verfügbar bis 10.10.2099 WDR 5


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Von Anfang an produziert der Reaktor unter Volllast waffenfähiges Plutonium. Die britische Atombombe soll schnell verfügbar sein. Nur zwei Jahre später gibt es den ersten Bombentest. Großbritannien ist nun - neben den USA und der Sowjetunion - Atommacht.

Unfall mit Ansage

Doch wenige Wochen später stellen die Amerikaner mit der ersten Wasserstoffbombe eine neue Generation der Atomwaffen vor. Sie ist tausendmal stärker als die Hiroshimabombe und bringt Premierminister Winston Churchill in Zugzwang. Will er jedem Aggressor die Stirn bieten, muss die H-Bombe auch ins britische Arsenal.

Nun soll Windscale noch mehr Plutonium herstellen - und dazu noch Tritium, das Schlüsselelement für die Wasserstoffbombe. Das bedeutet: Noch gefährlichere Brennelemente im Reaktor. Schon 1955 kommt es zu einem kleineren Störfall, als Brennelemente in die Abluftkanäle fallen. Radioaktivität wird frei.

Erst Fehlentscheidung dann Vertuschung

Für die Betreiber der Anlage, aber auch für die Politik ist das kein Grund, die Produktion zu drosseln. Eine Fehleinschätzung mit Konsequenzen: An einem Herbsttag 1957 steigt die Temperatur im Reaktorkern unkontrolliert an. Ein Brennelement ist geborsten und steht in Flammen. Fatalerweise wird die Luftkühlung hochgefahren, was den Brand weiter anfacht.

Am 10. Oktober kommt es zur massiven Freisetzung von Radioaktivität. Ein Feuerschutz existiert nicht, außerdem keinerlei Notfallplan. Löschversuche mit flüssigem Kohlenstoffdioxid und Wasser sind erfolglos, letzteres ist wegen der Gefahr einer Knallgasexplosion extrem gefährlich. Erst als ein Reaktormanager endlich die Gebläse abschalten lässt, erlischt das Feuer langsam.

Den Unfall spielt die Regierung herunter. Der amtierende Premier Harold Macmillan erklärt die Sache zum Staatsgeheimnis und lässt entsprechende Berichte bereinigen. Öffentlich verkündet er nur, dass die Mannschaft vor Ort die Lage falsch eingeschätzt habe. Dass eine radioaktive Wolke über Mittelengland bis nach Mitteleuropa zieht, bleibt 50 Jahre unter Verschluss. Noch heute sind die verstrahlten Ruinen auf der Anlage, die inzwischen Sellafield heißt, nicht restlos und sicher beseitigt.

Autor des Hörfunkbeitrags: Wolfgang Burgmer
Redaktion: David Rother​

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