"Anfang Oktober 1950 machte ich einen Spaziergang am Strand in Coney Island", erinnert sich Bettie Page. Sie stammt aus Nashville, einem Nest in Tennessee. Dort wurde sie am 22. April 1923 in prekäre Verhältnisse geboren. Sie erlebt sexuelle Gewalt des Vaters, kümmert sich um ihre jüngeren Geschwister, bis sie von der überforderten Mutter selbst in ein Kinderheim gegeben wird. Bettie Page will da raus: Sie möchte Schauspielerin werden und jobbt nach ihrem Collegeabschluss nun erst mal als Sekretärin in New York.
"Es war ziemlich kalt und der Strand war vollkommen leer." Nur ein Mann in Badehose macht Sport. "Ich saß nur da und schaute ihm zu." Der Mann spricht sie an und fragt, ob sie schon einem gemodelt habe. "Ich sagte: 'nein, darüber habe ich noch nie nachgedacht'. Und er sagte: 'Du wärst ein gutes Pin-up-Modell.'"
Ihr Entdecker hat einen Frisurtipp
Pin-ups haben damals Hochkonjunktur. Die Fotos und Zeichnungen, die leicht bekleidete Frauen lächelnd in verführerischen Posen zeigen, heften sich vorzugsweise Soldaten mit Reißzwecken - daher der Name Pin-Up - in ihre Spinde.
Der Sportler vom Strand ist Polizist und Hobbyfotograf. Er heißt Jerry Tibbs und macht Aufnahmen von Betti Page. Ihr Entdecker stopft ihr nicht nur Kleenextücher in den BH, um ihre Oberweite zu pushen. Er gibt ihr auch Frisurtipps.
"Bei unserer ersten Session sagte er zu mir: 'Bettie, du hast seine sehr hohe Stirn. Hast du schon mal darüber nachgedacht, Stirnfransen zu tragen?" Bettie Page, Pin-up-Modell
Modell für Männer von "Camera-Clubs"
Betti Page geht daraufhin nach Hause, schneidet sich einen Pony - und gefällt sich in ihrer neuen Rolle. Sie genießt das Blitzlicht der Foto-Shootings. Hierzu wird sie an Wochenenden von sogenannten Camera-Clubs eingeladen. Das sind lizensierte Vereinigungen von Amateurfotografen, die erotische Aufnahmen machen.
Bei bezahlten Ausflügen, die oft aufs Land führen, werden die Models in Szene gesetzt. Deshalb gibt es von Bettie Page Fotos auf dem Bauernhof. Halbnackt steuert sie einen Traktor, wühlt im Heu, posiert unter einem Birnbaum - meistens im Bikini, manchmal auch oben ohne. Sie verdient schnell genug Geld, um nicht mehr als Sekretärin arbeiten zu müssen.
In Lack und Leder als Domina
Ihre unkomplizierte Art, ihren Körper zu präsentieren, macht Bettie Mae Page in den 1950er-Jahren prominent. Zum Pin-up-Profi wird sie im Studio der Geschwister Irving und Paula Klaw. Dort entstehen Fotos und Filme der besonderen Art: "Bondage and Discipline" ("Fesselung und Disziplinierung"). Bettie posiert als Domina, schwingt - in Lack und Leder gekleidet - die Peitsche und lässt sich fesseln.
Rückzug und Comeback
Dann setzten die staatlichen Sittenwächter der McCarthy-Ära den Fetisch-Fotos ein Ende. Der Produzent Irving Klaw wird gezwungen, den Großteil seines Materials zu vernichten. 1957 zieht sich Bettie Page komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Sie besucht Bibelschulen und möchte als christliche Missionarin nach Afrika gehen, was ihr als geschiedener Frau verwehrt wird.
Den einstigen Pin-up-Star plagen zunehmend psychische Probleme. Lange Zeit wird sie wegen akuter Schizophrenie stationär behandelt. In den 1980er-Jahren erfährt sie ein Comeback in Abwesenheit: Frauen schneiden sich einen Pony nach ihrem Vorbild, Männer lassen sich ihre Bilder tätowieren.
Vorbild für Burlesque-Szene
1996 zeigt sich Bettie Page in einem exklusiven TV-Interview überrascht über ihre neue Popularität. Dass sie eine Wegbereiterin der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre gewesen sei, glaubt sie nicht: "Ich habe niemals versucht, originell zu sein. Ich machte einfach, was man mir sagte." Sie habe nie "irgendwie sexuell" posiert.
Bettie Page, die am 11. Dezember 2008 in Los Angeles stirbt, ist bis heute ein Vorbild für die Burlesque-Szene. Künstlerinnen wie die US-Amerikanerin Dita von Teese machen sich bei ihren stilvollen erotischen Tanz- und Gesangsdarbietungen auf wie die Pin-up-Queen.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Steffi Tenhaven
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. April 2023 an Bettie Page. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 23.04.2023: Vor 165 Jahren: Die Komponistin Dame Ethel Smyth stirbt in Woking
