Vor drei Jahren erschien im Berliner Verlag Matthes & Seitz der Roman "Liebe im neuen Jahrtausend" der chinesischen Schriftstellerin Can Xue und das Erstaunen war riesig. Hier war, völlig offensichtlich, eine ganz unvergleichliche Künstlerin zu entdecken. Und keineswegs eine Debütantin: Can Xue ist inzwischen 71 Jahre alt und seit ein paar Jahren heiße Kandidatin für den Nobelpreis, ihr ist Werk umfangreich und unübersichtlich. Als zweiter Blick auf dieses Werk ist jetzt der Erzählungsband "Schattenvolk" erschienen, der Geschichten aus den Jahren 1996 bis 2018 versammelt.
Die titelgebende Erzählung "Schattenvolk" spielt in einer glühend heißen Stadt. Tagsüber, hören wir, steht die Stadt in lodernden Flammen. Und tagsüber, das heißt: praktisch immer. Die Sonne geht unter, aber nur noch für vielleicht zwei Minuten jeden Tag. Darum verkrochen sich die Menschen nach und nach ins Innere ihrer Behausungen: Aus Schamgefühl! Immerhin: wer würde es wagen, gegen die Sonne selbst anzutreten?
Und dann passierten ganz erstaunliche Dinge: Die Körper der Menschen wurden aufgrund einer inneren Verdichtung allmählich immer dünner und dünner. Erst ähnelten sie Fahnenstangen ohne Fahnen, dann wurden sie zu bloßen Schatten. Sie hängen an den Wänden oder an der Decke, manche liegen unter dem Bett, einer kocht sehr leckere Fleischbrühe. Sie können sprechen und fliegen und manchmal legen sie sich auf den Boden mit dem Gesicht nach unten und lauschen den Stimmen, die durch die Ritzen im Boden dringen und geheimnisvolle Geschichten erzählen. Geschichten, möglicherweise, wie sie Can Xue selbst erzählt. Fantastische Geschichten, in jedem Sinne des Wortes.
Die Titelgeschichte "Schattenvolk" enthält viel von dem, was Can Xue zu einer so außergewöhnlichen Autorin macht: Das Delirierende und Rauschhafte des Erzählens zum Beispiel. Die Aufhebung aller Gesetze von Zeit und Raum und konventioneller Ordnung. Und, ganz wichtig: Die Allgegenwart von denkenden, fühlenden und sprechenden Tieren und Pflanzen. Hier erzählt ein Elstern-Ehemann, da erinnert sich eine Kröte an erotische Abenteuer. Hausratten knabbern alte Opas an, eine sterbende Weide beklagt ihr Schicksal und eine alte, weise Zikade verwandelt sich in eine Spinne.
Ringsherum: urbane Landschaften wie aus einem Trickfilm: Mauern und Häuser und Fabriken, Gestank und Lärm, Keller und Tunnel und Treppen, Herde und Betten. Dazu viel Gewalt und ständige Lebensgefahr: mörderische Menschen und Tiere, Gift und Krankheiten, Tumore und Pestilenz. Große Hitze liegt über dem Land, Stürme und Fluten drohen. Manche Kinder erfrieren auf der Straße, andere morden Vögel und anderes Getier mit Steinschleudern.
Aber was bedeutet der ganze delirierende Zauber? Sind die Erzählungen Can Xues Allegorien auf den Klimawandel und die rasende Industrialisierung Chinas in den letzten Jahrzehnten? Erleben die Menschen und Tiere hier, was Hunderte Millionen Chinesen in den letzten Jahrzehnten erlebt haben? Unaufhörliche Veränderungen, Gewalt, Heimatverlust, Entfremdung?
Es mag naheliegend erscheinen, in den hermetischen, rätselhaften Geschichten von Can Xue nach Spuren der chinesischen Geschichte und Gegenwart zu suchen. Nicht zuletzt deshalb, weil bekannt ist, dass die Familie der Autorin und sie selbst sehr unter der chinesischen Kulturevolution gelitten haben. Und doch täte man diesen Geschichten mit einer engen sozialkritischen Lesart grobes Unrecht. Can Xue geht es um letzte philosophische Fragen: Existenzielle Fremdheit und Unbehaustheit, der Verlust von Heimat, Einsamkeit, Sehnsucht nach vergangenen Welten. So offensichtlich dies ist, so verblüffend ist, wie die Geschichten angesichts solcher Themen doch durchzogen sind von einem verblüffenden Gleichmut. Auch Unschuld und Humor finden ihren Platz, auch und gerade wenn es mal wieder sehr roh zugeht. —- Aber das Wichtigste ist etwas anderes: In den Geschichten von Can Xue bleibt letztlich vieles bestürzend rätselhaft. Und das ist das größte Glück beim Lesen dieser fabelhaften Autorin. Seite für Seite gerät man ins Staunen, alles flirrt, alles glänzt, der Mund steht offen. — Rationalität und Verstehen kommen später. Vielleicht.
Eine Rezension von Uli Hufen
Literaturangaben:
Can Xue: Schattenvolk
Aus dem Chinesischen von Eva Schestag
Matthes&Seitz,