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Buchcover: "Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist" von Rivka Galchen

Buch der Woche

"Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist" von Rivka Galchen

Stand: 07.06.2024, 13:07 Uhr

Kann eine historisch verbürgte Begebenheit, die sich vor 400 Jahren zugetragen hat, Licht auf unsere Gegenwart werfen? Das ist die Frage, die die amerikanische Autorin Rivka Galchen, Jahrgang 1976, in ihrem zweiten Roman "Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist" letztlich stellt.

Die Geschichte, die Galchen erzählt, ist gut bekannt. Über mehr als fünf Jahre, von 1615-1621, musste sich Katharina Kepler aus Leonberg bei Stuttgart gegen den Vorwurf verteidigen, sie sei eine Hexe. Eine Kleinigkeit war das nicht: Zwischen 1550 und 1650 wurden in Europa mehrere zehntausend Menschen als Hexen zum Tode verurteilt, die meisten von ihnen Frauen. Die Keplerin, wie sie in Galchens Roman oft genannt wird, war eine alte Bäuerin, eine eigensinnige, scharfzüngige Person und eine Frau, die sich sehr gut mit Heilkräutern auskannte. Sie war auch, obwohl selbst Analphabetin, die Mutter des berühmten Mathematikers und Astronomen Johannes Kepler.

Der Prozess kommt ins Rollen, als eine Bekannte aus dem Ort, die Glasersfrau Ursula Reinhold die Keplerin beschuldigt, sie mit einem Hexentrunk vergiftet zu haben. Die Folgen, angeblich: Schmerzen und Unfruchtbarkeit. Damit ist eine Maschinerie in Gang gesetzt, aus der es für die Keplerin und ihre Familie über Jahre kein Entrinnen gibt. Zeugen werden befragt, Gutachten bestellt. Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, die Sache rührt an offenbar tiefliegenden Ängsten.

Rivka Galchen erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Katharina Kepler, mischt ihre Stimme aber mit Dokumenten, Zeugenbefragungen und dem Bericht eines hilfreichen Nachbarn. Und so entsteht nach und nach das Panorama einer gesellschaftlichen Panik, in der mehr oder weniger nach Belieben Anklage erhoben, geurteilt und gestraft wird. Ganz offenbar dienten die Hexenprozesse auch als Ventil.

Inmitten der allgemeinen Panik und Empörung reagieren die Menschen wie zu allen Zeiten: Es gibt Fanatiker, die wirklich an Hexen glauben. Es gibt Leute, die sich einen Vorteil erhoffen. Es gibt Leute, die helfen wollen. Und es gibt Leute, die sich nicht trauen zu helfen, weil sie Angst haben, als Nächster beschuldigt zu werden. Katharina Kepler aber tut, was nur kann, wer absolut integer, selbstgewiss und furchtlos ist: Sie reicht Gegenklage wegen Verleumdung ein und ist bereit, für ihren guten Ruf notfalls Gefängnis und Folter zu ertragen. Genau das wird nötig sein.

Rivka Galchen erzählt die Geschichte der Katharina Kepler als Geschichte des Widerstands gegen Missgunst, Niedertracht und Dummheit. Und sie erzählt in einer bildreichen Sprache, die von ihrer Übersetzerin Grete Osterwald fabelhaft ins Deutsche gebracht wurde. Die Welt der Hexenprozesse an der historischen Grenze von Aberglauben und Wissenschaft, Mittelalter und Neuzeit ersteht in großer Farbigkeit vor dem Auge des Lesers.

Und auf beinah jeder Seite beschleicht ihn ein bitterer Gedanke: Scheiterhaufen und Folter mögen der Vergangenheit angehören. Aber an der Logik und am Ablauf und an der Erbarmungslosigkeit einer Hexenjagd hat sich bis heute nichts verändert. Jeder Tag bietet dafür Anschauungsmaterial.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Rivka Galchen: Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist
Aus dem amerikanischen Englisch von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag, 2024
320 Seiten, 24 Euro