Buchcover: "Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie" von Clemens J. Setz

Aktuelle Lyrik - Ein Gedicht

"Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie" von Clemens J. Setz

Stand: 13.09.2024, 13:40 Uhr

Clemens J. Setz bewahrt mit seinem neuen Buch eine ganz eigene lyrische Gattung vor dem Vergessen: Das Twittergedicht. Eine Zeitreise in eine Internetepoche, die jetzt schon vergangen ist. Abwechslungsreich, kreativ, unterhaltsam und lehrreich. Nils Kretschmer liest daraus das Gedicht "Frühlingsabend".

Mit der Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter durch Elon Musk geschah weit mehr als die bloße Umbenennung in X. So wurde etwa das Zeichenlimit für Posts entfernt. Zuvor musste man sich kurz fassen: 140, später 280 Zeichen standen da jeweils zur Verfügung. Außerdem werden länger inaktive Accounts nun gelöscht. Musks unberechenbare Exzentrik und seine politischen Bekenntnisse trugen wohl zu einer gewissen Fluchtbewegung Kulturschaffender weg von X bei. So weit so doch einigermaßen bekannt.

Twitter war aber auch ein Tummelplatz für eine exotische neue Lyrik-Gattung: Dem sogenannten Twitter-Gedicht. Oder mit den Worten des österreichischen Schriftstellers Clemens J. Setz "die bemerkenswerte Nischenrevolution deutschsprachiger Poesie". Setz hat sich mit seiner neuen Veröffentlichung zum Ziel gesetzt, "wichtige, stilbildende Accounts" vor dem Vergessen zu bewahren. Dem Viele leider schon zu großen Teilen anheimgefallen sind. Setz birgt, einem Archäologen gleich, Funde und Fragmente einer bis vor Kurzem so üppig gedeihenden Gattung. Bemerkenswert und höchst bedauerlich, dass literarische Texte derart jung sind - nicht älter als zehn Jahre - und dennoch mehrheitlich schon unwiderbringlich verschwunden sind.

Setz' Buch "Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie" ist in zwei Teile gegliedert. Im Ersten finden sich ausgewählte Twitter-Gedichte von Setz aus den Jahren 2015 bis 2022. Den zweiten Teil füllen andere Cyber-Poetinnen und -poeten, auf die Setz große Stücke hält. Mit kleinen Zwischentexten erklärt er deren Reiz und Originalität.

Doch zuerst zu der Online-Lyrik von Clemens J. Setz. Der clevere und lässige Wahlwiener beeindruckt mit einer großen thematischen Bandbreite. Naturpoesie, Reiseimpressionen, Kinderreime, Nonsensgedichte ("Saxofone letztendlich auch nur Ritterrüstungen für Aale"), sogar Emoji-Gedichte flossen aus Setz' Tastatur in den Online-Orbit. Es ist eine bunte Mischung, die uns Setz hier aus seinem Schaffen präsentiert. Kleine Beobachtungen werden da pointiert aus dem Alltag alchimiert. "Die Sonnenblumen /verprügelt und braun / vornübergekippt / am Gartenzaun // Kein Biber schwimmt mehr / im Kanal / Die Blätter sterben / Herbst brutal"

Dazwischen finden sich interessante und selbstironische Erläuterungen, Screenshots zu Posts, auf die er sich bezog. Denn als Inspiration dienten Setz gelegentlich auch andere Tweets. Auch stellte er mal seine Skizzen online und bot sie zur Weiterverarbeitung an. Da meinte es jemand ernst mit dem Community-Gedanken.

"Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie" ist auch ein Blick über die Schulter des Dichters, der sich hier freigiebig beim Werkeln in der Reimewerkbank zu schauen lässt. Ein fröhlicher Verseschmied, der verdichtet, was ihm gerade ins Auge fällt. Unermüdlich produziert Setz hier content von ausgesuchter Qualität. Und zeigt dabei einen wachen Geist, der sich für viele und vieles erwärmt, durchlässig ist, die Sinne auf Empfang gestellt. Kreativ, verspielt. Und auch mal abgedreht: "IDEE FÜR KURZFILM / Ein Mann macht sich Toast. Auf dem Toast erscheint in den schwarz verbrannten Stellen, so wie sonst manchmal das Antlitz Christi, ein Barcodemuster. Er scannt es, das ergibt einen Link und der Link führt ihn auf eine alte Geocities-Seite, die seit den 90ern nicht mehr existiert".

Reime sind Setz realtiv wichtig, in der Welt der hier ansonsten versammelten Onlinepoesie mutet das fast schon old school an. "Heute Abend roter Mond /Mars noch immer unbewohnt /aber dafür ziemlich hell / Spür das All im eignen Fell". Setz erklärt zum Thema Reimen oder Nichreimen: "Ein Reim dagegen macht das Ganze farbig, heiter, durchblutet. Und das ist, gerade wenn es um die Wünsche und Sehnsüchte einer Person geht, eine gut nutzbare Technik zur Wahrung der Übertragungsqualität unserer Gefühle." Setz' Gedichten haftet so oft etwas Uriges, Kindlich-Sonniges, Staundendes an.

In Punkto formaler Innovation, radikaler Unmittelbarkeit und inhaltlicher Rätselhaftigkeit kann er den anderen hier versammelten Dichterinnen und Dichter nicht das Wasser reichen. Kurt Proedel, Lunatic Absturz, standseilbahn, Computerfan2001, Julia Knaß, Carla Kaspari und wie sie alle heißen - ihnen setzt Setz hier ein Denkmal. Und er führt uns dabei in ein überaus witziges Paralleluniversum. Das hat nicht nur hohen Unterhaltungswert, sondern auch den Informationsgehalt einer Poetikvorlesung oder eines VHS-Seminars mit einem echt coolen Dozenten. Etwa wenn Setz anhand eines getweeteten Gedichts die Besonderheit jener Poetin aufzeigt. Oder bei jenem Poeten den Einfluss von Deutschrap erläutert: "Es geht darin um Kompaktheit, Beschleunigung und die absichtlich falsche Verwendung eines Wortes. Wenn man eine grammatikalisch falsche Endung verwendet, wird das Wort selbst logischerweise sichtbarer, es leuchtet auf, windet sich, knirscht gegen seine Nachbarwörter."

Setz ist nicht nur Zauberer sondern auch Verzauberter. Er teilt die Begeisterung für Poesie, staunt und freut sich. Und wir mit ihm. Denn es ist wirklich ein Reigen an Kreativität, Innovation und spontaner Geistesblitze, der sich hier über Leserinnen und Lesern ergießt. "keine Plage kann deutscher klingen als „eichenprozessionsspinner“ "mein neuer mann heißt ditlef / es macht mich glücklich reiswaffeln mit butter zu essen ich denke nicht dass wir das hier noch weiter diskutieren müssen ditlef!!! /ditlef sagt ich komm langweilig rüber wegen meines aszendenten" "find fische so hängengeblieben mit ihre scheiß glubschaugen" "ich will in einem frühstücksbuffet leben" "bin jetzt 28 aber weiß immernoch nicht was ich mit meinen armen machen soll wenn ich aus einiger entfernung auf eine person zulauf" "was war zuerst da keith haring oder die zahnarztpraxis"

Es ist toll zu lesen, was Sprache so alles kann. Und wie da auf engstem Raum und mit hoher Eigenständigkeit Atmosphäre, Witz oder Drama kreirt werden. Setz weiß hierzu: "Diese besondere Mischung aus Erzählwind und aphoristischer Atomisierung zeichnet das Werk vieler Twitterpoet:innen aus." Die oft nicht so einfach oder überhaupt nicht entschlüsselbaren Stilblüten sind Ausdruck einer florierenden, überall hin rankenden Onlinepoesie. Dass sie zu großen Teilen kryptisch daher kommt, erklärt sich vermutlich aus ihrem Entstehungskontext. Der rasante Austausch von Anspielungen und Insiderwitzen - deren Pointe häufig eher eine Art Nicht-Pointe ist - mündet des Öfteren zu einem anarchischen, verschachtelten und schrägen Dada-Humor.

"Vögel die kleinen Körner freaks" "Jetzt mit mein Spazierstock Frösche aufspießen wie so geisteskranke Herr Baron" "Jetzt Dinosaurier mit Knetmasse, Silikon und Echthaar modellieren dann aussterben lassen Bruder" "Reis Ist Maden Eier Sind Dicke Kleine Männer Ein Fleisch Ist Ein Schuh Alles Essen Ist Nicht Gut" Setz erzählt auch aus Gesprächen und Korrespondenzen mit einigen der von ihm verehrten Dichterinnen und Dichtern und rundet so ein üppiges Buch ab.

"Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie" ist ein phänomenaler, sehr abwechslungsreicher Gedichtband. Prädikat: Absolut empfehlenswert.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangben:
Clemens J. Setz: Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Bibliothek Suhrkamp, 2024
192 Seiten, 23 Euro