Helfen Bilder auf einem Smartphonedisplay, das Grauen von damals zu verstehen? Die Idee, längst verfallene Baracken auf einem Tablet darzustellen, kommt bei jungen Besuchern jedenfalls gut an.
Viel erhalten ist aus der Lagerzeit nicht mehr. Historiker wie Stefan Wilbricht kümmern sich darum, dass auch das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte niemals vergessen wird. Doch das wird zunehmend komplizierter. "Wir haben ja zunächst mal das Problem, dass wir dieses Jahr – 2015 – den 70. Jahrestag der Befreiung begehen", sagt Wilbricht. "Wir kommen dadurch immer weiter weg von dem Ereignis, um das es uns eigentlich geht. Jede neue Generation hat viel mehr Schwierigkeiten damit sich mit diesen Ereignissen ein Stück weit in Verbindung zu setzen."
Bergen-Belsen App soll Geschichte verständlicher machen
Um neue Generationen zu erreichen muss sich die Geschichtswissenschaft wandeln – so, wie es auch die Gesellschaft tut, findet Wilbricht. Gemeinsam mit Historiker-Kollegen aus der Gedenkstätte und einem Informatiker-Team aus Barcelona hat Wilbricht deshalb die Bergen-Belsen App entwickelt. Diese App verortet die Besucher über ein GPS-Signal in der Landschaft und zeigt ihnen präzise an wo sie sich befinden. Das Besondere: Die App liefert außerdem eine virtuelle Rekonstruktion des ehemaligen Lagers. In bewusst zurückhalternder Form werden die Standorte der ehemaligen Baracken sowie Zaunverläufe skizziert. So können sich die Besucher Topografie und Dimensionen des ehemaligen Lagers besser vor Augen führen. An bestimmten Orten sind außerdem verschiedene historische Quellen hinterlegt. "Die App macht das Gelände ein Stück weit zu einem Archiv", erklärt der Historiker. "Der Benutzer hat die Möglichkeit sich historisches Quellenmaterial wie Texte, Bilder, Zeichnungen oder auch Audioquellen auf dem Gelände selber zu erschließen. Er erläuft sich im Prinzip historisches Material." Die Bergen-Belsen-App ist auf hauseigenen Tablet-Computern vorinstalliert. Zehn Geräte gibt es bereits, weitere sollen folgen.
Technik verändert Wirkung des Ortes
Standort: Eine ehemalige Latrine, die ohne App gar nicht sichtbar ist. "Hier zum Beispiel haben wir auch eine Audioquelle verortet. Das ist aus einer Rede, die Jehuda Blum 2003 bei uns in der Gedenkstätte gehalten hat", sagt Wilbricht. Um das zu zeigen ist der 33-Jährige von der aktuellen Kartenansicht auf die Rekonstruktion des Jahres 1944 gewechselt. Neben der Latrine erscheint ein kleines Symbol zum Anklicken. Wilbricht tippt mit seinem Zeigefinger drauf und der Zeitzeuge beginnt zu sprechen. Er spricht genau über den Ort, an dem wir heute stehen. Die Wirkung ist eine ganz andere, als im Museum. Man fühlt sich der Geschichte plötzlich sehr viel näher.
Die App ermöglicht mit Hilfe der virtuellen Rekonstruktion eine andere, eine deutlich konkretere Vorstellung des Lagers Bergen-Belsen. Verschwimmen hier die Grenzen von Realität und Virtualität? Die Historikerin Astrid Homann hat die App ebenfalls getestet und kritisiert die technische Einflussnahme. "Man hat immer eine Ebene, die dazwischengeschaltet ist und ist nicht mehr in der direkten visuellen Kommunikation mit dem Ort", stellt Homann fest. "Ich finde es durchaus auch produktiv, wenn nicht alles sofort verstanden wird und es Irritationen gibt oder überraschende Momente."
Hier ist die pädagogische Vermittlung des Historikers gefragt. Doch die steht nicht zur Debatte, betont der Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, Jens-Christian Wagner. Fragen und Gespräche wird es auch in Zukunft geben. Die App soll weder Historiker, noch Führungen ersetzen, sondern ausschließlich bei ihrer pädagogischen Arbeit unterstützen. "Neue Medien – ob es nun Apps sind, soziale Netzwerke und dergleichen – sind immer nur ein Hilfsmittel", so Wagner. "Sie sind aber ein sehr gutes Hilfsmittel das umzusetzen, was das Ziel unserer Arbeit ist: Ein historisches kritisches Bewusstsein bei unseren Besuchern zu generieren, ein historisches Urteilsvermögen zu entwickeln."
App kommt bei Jugendlichen an
In der Praxis scheint das zu funktionieren: Die Bergen-Belsen App wurde bereits an verschiedenen Besuchern getestet. Unter anderem an Schulklassen. In Kleingruppen haben die Schüler mit Hilfe der Tablets das Gelände erkundet und sich intensiv mit den verschiedenen Quellen auseinandergesetzt. Im Anschluss wurden die Ergebnisse diskutiert und von Stefan Wilbricht eingeordnet.
Während Senioren eher zurückhaltend reagieren, kommt der multimediale Zugang zur Geschichte gerade bei den jungen Menschen an, berichtet Wilbricht. Auch Familienangehörige ehemaliger Gefangener sind mit der App über das Gelände gegangen. Besonders berührt war der Historiker von der Reaktion eines jungen Paares, das einen Familienangehörigen in dem Lager verloren hat. Die App führte sie zu der Baracke von damals. "Und so wurde für dieses junge Paar diese große grüne Wiese, Bergen-Belsen, an der sie gedenken konnten plötzlich zu einer Gruppe von Bäumen, die sie ganz spezifisch lokalisieren können", sagt Wilbricht. "Diese Bäume sind heute der Standort der Baracke von damals. Sie haben jetzt einen viel konkreteren Ort an den sie gehen können. Der Kommentar beim Weggehen war: We now have something like closure."
Viele Vorurteile
Die Bergen-Belsen App polarisiert. Anerkennung auf der einen Seite und Ablehnung auf der anderen. Während technischer Fortschritt in der Naturwissenschaft nicht zur Debatte steht, tut sich die Geschichtswissenschaft schwer damit. Einige fürchten sich davor in Zukunft womöglich ihre Jobs zu verlieren, andere werfen dem neuen Ansatz Voyeurismus vor. Auch die Öffentlichkeit geht mit der App hart ins Gericht. So hält beispielsweise der Publizist Henryk M. Broder wenig von dieser neuen Form der Aufarbeitung und verleiht seiner Meinung wie gewohnt in aller Schärfe Ausdruck. Jüdische Austauschhäftlinge "sind keines virtuellen sondern eines realen Todes gestorben. Und keine App wird sie ins Leben zurückholen", schreibt er in einem Blogartikel von 2013. Broder hat die App über die er urteilt übrigens nie selbst getestet.
Populismus, pauschale Kritik und Ablehnung neuer Methoden – das ist leider keine Seltenheit für Stefan Wilbricht und seine Kollegen. "Einfach mal machen", lautete daher das interne Motto des Historiker-Teams. "Wir sind ein Ort der Vermittlung, wir sind ein Ort der Wissenschaft, wir sind ein Ort der Erinnerung, wir sind ein Ort der Aufarbeitung – das heißt, wir müssen uns auch weiterentwickeln. Wir müssen auch einfach mal verschiedene Dinge ausprobieren dürfen und können. Wir suchen den Diskurs, aber wir wollen uns davon auch nicht ausbremsen lassen", findet Stefan Wilbricht deutliche Worte.
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen hatte den notwendigen Mut für diesen zukunftsweisenden Schritt. Obwohl die historischen Ereignisse immer weiter in die Ferne rücken, wird die Erinnerungskultur mit Hilfe dieser neuen technischen Möglichkeiten gewahrt und sogar ein Stück weit nahbarer gemacht. Die App macht möglich, dass Geschichte präsent bleibt – und nicht irgendwann selbst zur Geschichte wird.
Redaktion: Imke Marggraf