Darf man das? Geschichte auf 140 Zeichen eindampfen? Fünf Studierende und Doktoranden der Geschichte sagen: Ja. Und tippen, was das Zeug hält. Sie twittern ab heute (27.01.2015), dem Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz, bis zum 8. Mai die letzten Monate des 2. Weltkriegs nach. Der Twitter-Account, den sie dazu benutzen heißt @digitalpast. Die knappen Meldungen sind eine Auswahl von Zitaten, Augenzeugenberichten, Ereignis-Schilderungen – immer mit Fußnote mit Nachweis der Quelle. Verschickt werden die Kriegs-Botschaften von @digitalpast in Echtzeit. Alles datumsgenau und pünktlich, bloß eben 70 Jahre nach den Ereignissen.
Geschichte in die Gegenwart holen
Eine dieser Twitter-Historiker ist die Bonner Geschichtsstudentin Charlotte Jahnz: "Es ist was ganz anderes, als was man sonst so liest. Weil es die eigene Timeline, die man hat, aufbricht. Also da steht dann neben jemandem, der gerade an der Bushaltestelle ist und sich ärgert, dass der Bus zu spät ist ein Tweet, dass gerade die Wilhelm Gustloff zum Beispiel untergeht. Das reißt das Ganze so raus. Der Alltag wird irgendwie nicht mehr so wichtig. – Weil es Ereignisse gibt, die wichtiger waren damals und die man jetzt wieder ins Gedächtnis gerufen bekommt."
Deshalb füttert Charlotte Jahnz fleißig ihren Computer mit Twitter-Nachrichten. Sie erzählen von der Befreiung des KZs Auschwitz am 27. Januar bis zum Kriegsende am 8. Mai. Die Botschaften aus dem Krieg landen auf den Smartphones der Mitleser pünktlich, minutengenau 70 Jahre nach dem Geschehen. Das liest sich dann etwa so:
"27.01. 14 Uhr 30: Smen Besproswannyj, Kommandant des 472. Regiments der Roten Armee, fällt im Kampf um das KZ Auschwitz."
"30.01. 10 Uhr: In den nun geöffneten Magazinen von Auschwitz entdecken die Soldaten große Berge von Eigentum der Ermordeten."
Chronologie in Echtzeit - Damals als Heute
Die Bonnerin Charlotte Jahnz und vier weitere Historiker aus Jena, Mainz, Aalen und Heidelberg packen viele Details in die Kurznachrichten. Dazu gehört auch viel Alltagsgeschichte von vor genau 70 Jahren. So wird @digitalpast die Zerstörung Dresdens in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar erzählen – anhand der Tagebucheinträge Victor Klemperers. Auch aus Walter Kempowskis Werken wird zitiert. Da geht es etwa um Rezepte, wie man aus verendeten Pferden Leberwurst macht. Oder um Dramen in den Flüchtlings-Trecks auf der Flucht vor der Front.
"Auschwitz und Ich"
Buch zum Twitterprojekt – Alte Medien ergänzen neue
"Als der Krieg nach Hause kam" heißt der Buchtitel, der parallel zum neuen Twitter-Projekt erscheint. Es knüpft an seinen Vorgänger @9nov38 an – die Nacherzählung der Ereignisse rund um die Reichspogromnacht 1938, als in Deutschland die Synagogen brannten. @nov38 hatte zeitweise 11.000 Follower und zeigte unter anderem die absurde Gleichzeitigkeit von Ereignissen: "11.11., 11:11 Uhr: Obwohl in Köln zahlreiche Gebäude und Synagogen zerstört sind, beginnen die Karnevalisten die närrische Zeit."
Wer heute so eine Botschaft auf sein Handy bekommt, während er sich gerade selber ins Kostüm wirft, wird nachdenklich, erklärt Charlotte Jahnz: "Das war an dem Tag ein riesiger Aufbruch meiner Timeline, die natürlich Karneval feierte. Und dann kam dieser Tweet. Und das ist auch der Tweet, der am meisten re-tweetet wurde, also von anderen Leuten noch mal weiter getragen wurde. Da merkt man schon, dass die Gegenwart irgendwie mit der Vergangenheit verbunden ist. Und dass man sich das in Erinnerung rufen sollte."
Neue Geschichtswissenschaft trotzt den Traditionen
Oft entspinnen sich bei der weiteren Verbreitung der Tweets ernste Debatten, es wird munter kommentiert und weiter empfohlen. Die vorgegebene Kürze der Nachrichten sehen Jahnz und Kollegen als Herausforderung, die es auch in der Wissenschaft zu vertreten galt, berichtet Charlotte Jahnz:
"Es gab Kritik. Dass 140 Zeichen für den Historiker natürlich zu wenig sind. Wenn man alle Tweets vom alten Projekt ausdruckt, hat man 51 Seiten. Also die Leute hätten theoretisch 51 Mal eben so nebenbei gelesen. Was ich schon beachtlich finde. Gleichzeitig ist es natürlich klar, dass man in 140 Zeichen nicht kontextualisieren kann, wie das der Historiker so gerne macht."
Die Antwort der Twitter-Historiker auf diese Kritik: Ein Internet-Blog, um den Mitlesern Genaueres an die Hand zu geben. Er liefert Quellentexte und Hinweise auf Fachartikel, die bei Twitter naturgemäß fehlen. Außerdem haben sich die Geschichts-Studenten eine Regel für ihren neuen Account @digitalpast gegeben: Sie setzen keinen Tweet über die Zeit zwischen der Befreiung von Auschwitz und der bedingungslosen Kapitulation in Berlin-Karlshorst ab ohne Fußnote. Ein bisschen Wissenschaftstradition gibt es also doch noch – auch in der neuen Medienwelt.
Redaktion: Imke Marggraf