Man habe sich gefragt, was Moses eigentlich auf dem Berg Sinai mache, während unter Duldung seines Bruders Aron das Volk die alten bildhaften Götzen verehre. Theologisch geht es um die Genese des Bilderverbots („Du sollst Dir kein Bildnis machen“) und der monotheistischen Religion. Dietrich Henschel gibt in Bonn die Figur des Moses als Künstler, nicht als Religionsstifter. Man sieht ihn in einem quaderförmigen Aktionsraum, in den von oben Müll herunterfällt, das er als Material für seine Performance nutzt. Joseph Beuys, dessen Aktion „I like America and America likes Me“ einmal sogar zitiert wird, lässt grüßen. Diese wilde auch wütende Performance mündet in ein action painting. Moses ringt körperlich sich entäußernd mit seinem Gott, der als baumelnde Glühbirne dargestellt ist, um dessen Gesetz in Form von Wörtern und Schriftzeichen zu fassen, bis er ganz nackt seinen Körper als Fläche für die Gesetzestafeln benutzt, ohne 20 Minuten lang überhaupt einen Ton von sich zu geben, denn laut Partitur ist er ja gar nicht anwesend.
Überhaupt darf Dietrich Henschel über zwei Stunden nur eine einzige Phrase richtig singen, nämlich seine Ansprache an Aron „Reinige dein Denken“, ansonsten stammelt er, denn Moses‘ „Zunge ist ungelenk“. Die opernmäßige Äußerungsform des Singens ist seinem Bruder Aron vorbehalten, den der Tenor Martin Koch mit Geschmeidigkeit und betörender Eindringlichkeit gibt.
Später tritt Moses wieder vor sein Volk, um Aron zu maßregeln, weil er das Bilderverbot missachtet und dem Volk den rauschhaften Götzendienst erlaubt hat. Man sieht dann auf der Bühne von Paul Zoller und in Sabine Blickenstorfers Kostümen eine mit Puppenleichen übersäte Landschaft. Damit wird an das erste Bild dieser Inszenierung angeknüpft, wo der Dialog zwischen Moses und Aron um die Unvorstellbarkeit Gottes als Kasperltheater vorgeführt wird, sozusagen als entpersonalisierte Urform von Theater und Kunst.
Diese Umdeutung der Moses-Geschichte als Kunstphänomen, sozusagen als Prozess aktionistischer Sprachfindung, ist interessant, denn Moses‘ Ringen um den Text der Gesetzestafeln hat (so sieht es zumindest der Regisseur) ja etwas ursprünglich Atavistisches und ist dem Tanz ums Goldene Kalb in seinen Äußerungsformen sehr nahe. Zugleich wird hier auch der 12-Ton-Künstler Schönberg ins Bewusstsein gerückt, der den immer auch etwas esoterisch anmutenden Grundzug seines strengen Komponierens („Ich habe etwas gefunden, das der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichert“) selbst durch eine Entfesselung des Triebhaften konterkarierte.
All das wird in der vom Bonner Generalmusikdirektor Dirk Kaftan souverän geleiteten Aufführung spürbar, denn er lässt keine Gelegenheit aus, Schönbergs Orchestersatz (etwa die Hälfte der Musik ist rein instrumental), der gerade im Tanz ums Goldene Kalb eine bezwingende Vielgestaltigkeit aufweist, klanglich auszuleuchten.
Besuchte (und letzte) Vorstellung: 13.01.2024 (Premiere 10.12.2023)
Besetzung:
Moses: Dietrich Henschel
Aron: Martin Koch
Ein junges Mädchen / Erste nackte Jungfrau: Tina Josephine Jäger
Eine Kranke: Ingrid Bartz
Ein junger Mann / Der nackte Jüngling / Jüngling: Tae Hwan Yun
Ein anderer Mann / Ephraimit: Mark Morouse
Ein Priester: Martin Tzonev
Zweite nackte Jungfrau: Ava Gesell
Dritte nackte Jungfrau: Alicia Grünwald
Vierte nackte Jungfrau : Susanne Blattert
Sechs Solostimmen: Johanna Risse, Katarzyna Włodarczyk, Rena Kleifeld, Samuel Levine , Soowon Han , Christopher Jähnig
Chorsoli: Sven Bakin, Ulrike Gmeiner ,Jongmyung Lim, Miljan Milovic, In Hyeok Park, Claudia Rodriguez ,Katrin Stösel
Chor des Theater Bonn, Vocalconsort Berlin
Beethoven Orchester Bonn
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Inszenierung: Lorenzo Fioroni
Bühne: Paul Zoller
Kostüme: Sabine Blickenstorfer
Video: Christian Weissenberger
Licht: Boris Kahnert
Regiemitarbeit: Beate Vollack
Choreinstudierung: Marco Medved
Dramaturgie: Polina Sandler