Im Gegenteil, man wollte mitten ins Leben, z. B. mit "21 Songs in a Public Surrounding" – der MAM.manufaktur für aktuelle musik, die in der Unterführung des Ebertplatzes dazu einluden, sich dem "Ort und seinen Klängen, Gerüchen und Menschen zu öffnen". Allzu nah wollten sie die dort weilenden Junkies aber nicht um sich haben, von denen sich einer den in durchsichtigen Plastikkostümen mit Karnevalslametta performenden Akteuren näherte, die mit Gesang, Trompete, Geige, Cello, Fagott etc. avantgardistischen "Musique Concrète"-Sound von sich gaben. Er wurde höflich weggedrängt, damit das Kunstereignis ungestört vonstattengehen konnte.
In "Hark!" haben die Tänzerinnen Luisa Saraiva und Senem Gökçe Oğultekin sowie die Musiker Nathan Bontrager und Peter Rubel ein großes musikgeschichtliches Thema geschultert: Purcells Ode "Hail! Bright Cecilia".
Das Quartett benutzt musikalische Fetzen aus dieser Musik als Soundtrack für ein Bewegungs- und Erzähltheater. Da werden Geschichten von amerikanischen Geistheilern beiläufig zum Besten geben. Da bewegt man sich in einer Mischung aus Ballett und Modern Dance. Da werden Gamben, Gitarre, Banjo und eine Reiseharmonium bedient. Aber jede dieser Kunstformen verbleibt in einer irritierenden, zur Schau gestellten Amateurhaftigkeit, obwohl vier Profis am Werk waren. Darüber half auch nicht hinweg, dass das Publikum ganz dicht an den Ausführenden auf dem Boden des Orangerie-Theaters kauern durfte oder musste.
Faszinierend ist es, wenn Virtuosität auf ein Sujet trifft, das relevant ist, also das Gegenteil der Demonstration bloßer Fertigkeiten. Frauke Aulbert zeigt sich in ihrem "Voice Lab" als große Stimmkünstlerin und -akrobatin. Sie kann Koloratur. Sie hat auch eine große flammende Opernstimme. Sie kann ein Parlando wie eine Rapperin. Sie benutzt ihre Stimmbänder wie Instrumente (elektronisch verfremdet). Damit spielt sie in einer halb ironischen, halb sorgenvollen, aber immer lustvollen Art mit den Zumutungen des Medien- und Internetzeitalter. Man sieht sie als Fernsehmoderatorin, als Betreiberin eines Schwangerschaftsblogs, vor allem aber als eine Künstlerin, die ihre farbige Stimme mit einem ebenso farbigen Vexierspiel verfremdeter Eigenporträts auf einer Leinwand konfrontiert quasi als produktive Weiterentwicklung dessen, was man früher einmal Musikclips nannte. "Voice Lab" ist keine böse Abrechnung mit dem, was aus dem Internet entgegenströmt, sondern eine Art Überbietung, mit dem sie Zuschauer und Zuhörerinnen staunen lässt.
Bei "Cold Sweat" war zwar mit Daniel Gloger ein profilierter, mit allen Wassern der Barockmusik und des zeitgenössischen Musiktheaters gewaschener Sänger am Werk. Es zeigte sich aber, dass das allein nicht reicht, um ein musiktheatralisches Ereignis zu generieren. Das von Michael Maierhof komponierte 30-Minuten-Stück ist eine Art Soundtrack zu Filmschnipseln aus einem Gangster-B-Movie von 1970. Gloger doubelt den angeschossenen Gangster und hantiert mit einer Pistole, in die ein Mikrofon eingebaut ist, in das er seine Töne entlang einer, wie er später bekundete, komplizierten ausgearbeiteten Partitur abgibt. Aber es klingt doch nur wie ein unspezifisches Grummeln und Dröhnen, gelegentlich akzentuiert durch Pistolenschüsse. Dieses bewusst reduzierte Spektakel fand in einem privaten Loft nahe des Kölner Eigelsteins statt, zu dem das Publikum mit einer kleinen Stadtwanderung geführt wurde.
Zu der Auswahl an für Musiktheater ungewöhnlichen Spielstätten gehörte auch der Club-Keller von 674FM am Ubierring. Dort trat der Rapper "Der Täubling" auf, der durch seine zynisch abschätzigen, wütenden, aber auch sympathisch unverblümten Songs ('Du Penner') eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Seinen akademischen Grad gibt er mit Professor für Angewandte Misanthropie an. Er tritt mit Hasenmaske auf und erinnert darin und in seinem Gebaren ein bisschen auch an Beuys.
"A Singthing" ist ein Dreipersonenstück der Gruppe [in]operabilities, bei dem es darum geht, herauszufinden, ob man Opernarien auch anders als nur hörend erleben kann. Die Perfomerin Sabrina Ma erinnert sich an "Nessun Dorma" gesungen von Pavarotti, von dem man aber nichts hört, sondern nur sie selbst einmal ganz kurz. Dann aber zeigt sie bei der Stelle "Vincerò" eine angestrengte Gesangsmimik, die immer mehr in ein Zittern des ganzen Körpers und schließlich in ein stummes Trommeln auf dem eigenen Körper übergeht. Ähnlich Leo Hoffmann mit Francesca Caccinis "Lasciatemi Qui Solo", das in Gebärdensprache übersetzt wird, die sich dann mehr zu einem ausdruckshaften Mienenspiel wandelt. Bei der Schauspielerin Athena Lange, die selbst nicht hörend ist, verlagert sich der Auftritt fast ganz ins Visuelle. "Ich habe für immer Musik in mir, aber woher?", liest man. Das dem wirklich so ist, spürt der Zuschauer, denn sie steigert ihren Ausdruck noch in dem, was die beiden anderen in Ansätzen zeigten. Dazu kommt ein Vibrieren der Bühne im Staatenhaus, das der Zuschauer als weitere Sinnesebene erlebt.
Das Festival "Orbit" hat für sich selbst den Anspruch formuliert, aktuelles Musiktheater zu zeigen. Aus Nachhaltigkeitsgründen ("Oft landen Produktionen nach ein oder zwei Aufführungen im Sperrmüll") gab es ausschließlich Wiederaufnahmen von Stücken, die woanders schon liefen. Man wusste also, was man einkaufte. Und deswegen ist die Frage berechtigt, ob jede optisch aufgewertete Soloperformance schon Musiktheater ist. Und auch die Frage, ob als Konzept deklarierte Vorläufigkeit hier und Amateurhaftigkeit dort allein schon den Bonus des Theatralischen einlösen.
Vom 12. – 15.04.2024: 8 Produktionen an 5 Spielstätten