Der „Andere“ ist ein Fremder, der ins Dorf kam, sich höflich verhält, den Bewohnern aber einen Spiegel vorhält, etwa in Form einer Kunstausstellung, auf der er den Bewohnern ihre schonungslosen Porträts präsentiert. „Ein Spiegel kann nur zerbrechen“, weiß der Dorfpfarrer Peiper zu berichten, um damit den Mord am „Anderen“ anzudeuten. Die Bewohner tragen Namen mit deutschen Anklängen wie die genannten oder Göbbler, Buller, und die Besatzer nennen sich Fratergekeime. Aber Claudel legt Wert darauf, dass sein Roman weder zeitlich noch räumlich lokalisierbar ist. Unschwer erkennt man aber die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Aus diesem komplexen Werk, das mit zahllosen Milieu- und auch Verbrechensschilderungen, Rückblenden und Reflexionen arbeitet, eine Oper zu machen, musste für den Komponisten Daan Janssens und den Regisseur und Mit-Librettisten Fabrice Murgia eine echte Herausforderung gewesen sein. Claudel, der ja auch Filmregisseur arbeitet und also weiß, was der Transfer von einem Medium in ein anderes bedeutet, ließ es, wie er sagte, gutwillig geschehen, gleichzeitig betonend, er habe schon Gründe gehabt, die Romanform zu wählen.
Das ungefähr 10seitige französische Libretto stellt ein gelungenes Destillat des über 300 Seiten dicken Roman dar. Es enthält wesentliche (opernhafte) Szenen, etwa das Bekenntnis des ungläubigen Priesters, die Kunstausstellung, die zu Herzen gehende Schilderung der Vergewaltigung geflüchteter Mädchen und Emélia, der Frau von Brodeck, die Exekution eines Dorfbewohners, die Szene mit dem Brief des Lehrers. Naturgemäß ist dabei die Komplexität der Erzählung verschwunden. Geblieben sind 22 Szenen, übrigens genauso viel wie Tschaikowsky in seinem „Eugen Onegin“ aus Puschkin herausgeholt hat, dem Vorbild aller Romanvertonungen.
Bei seiner Vertonung hatte Daan Janssens nicht den Ehrgeiz, die Komplexität der Romanvorlage durch die Hintertür wieder hereinzuholen. Im Gegenteil: obwohl er ein von Marit Strindlund souverän geleitetes riesiges Orchester einsetzt, ist sein Musikstil von geradezu frappierend einleuchtender Prägnanz. Gesungen wird meist im rezitativischen Deklamationsstil, woraus sich große Textverständlichkeit ergibt. Viele Schlüsselpassagen werden sogar gesprochen. Dazu werden im Orchester Klangfarben erzeugt mit jeweils eindeutigem emotionalem Gehalt: z. B. anschwellende Tonflächen oder Blechbläserattacken mit Paukengrundierung, wenn es bedrohlich wird. Es gibt Leitmotive, wie abgleitende chromatische Glockenspielskalen für die Figur des „Anderen“ und konkrete Musik etwa als groteske Walzer und Kirchenchoräle. Nur selten schälen sich aus den Klangflächen des Orchesters Melodien oder musikalische Themen heraus. So etwas spart sich Janssens für besondere Momente auf, etwa bei der Schilderung des Schicksals der drei Mädchen.
Das Hauptverdienst von Janssens und Murgia besteht darin, über die Dauer von deutlich mehr als zwei Stunden Spieldauer einen nicht nachlassenden Spannungsbogen hergestellt zu haben, in dem ein Bild ins andere führt, so dass es für die Bühne auch keine Rolle spielt, dass die ganze Zeit mit Rückblenden gearbeitet wird. Dass diese Bilder verständlich bleiben, stellte Murgia, der auch Regie führte, mit Bühnenkameras her, die immer wieder Nahblicke und vor allem szenische Akzentuierungen zwischen Realzeit und simultanen Rückblenden ermöglichten.
Insgesamt eine erlebenswerte Neuproduktion von Opera Ballet Vlaanderen, ein Stück Literaturoper, das dem Roman von Philippe Claudel auf Augenhöhe begegnet und etwas von seiner Tonalität bewahrte.
Uraufführung: 09.02.2024 noch bis 20.02.2024 in Antwerpen, danach bis 03.03.2024 in Gent
Komposition: Daan Janssens (*1983)
Libretto. Daan Janssens und Fabrice Murgia nach dem Roman "Le Rapport de Brodeck" von Philippe Claudel
Besetzung:
Brodeck: Damien Pass
Emélia: Elisa Soster
Fédorine: Helena Rasker
Göbbler/Peiper: Thomas Blondelle
Schloss: Kris Belligh
Orschwir: Werner Van Mechelen
Büller/Ulli: Tijl Faveyts
Anderer: Josse De Pauw
Diodème: Jean-Pierre- Baudson
Poupchette: Susan De Ceuster, Fay Huygen
Sinfonieorchester der Opera Ballet Vlaanderen
Chor und Kinderchor der Opera Ballet Vlaanderen
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Inszenierung: Fabrice Murgia
Bühnenbild: Vincent Lemaire
Kostüme: Clara Peluffo Valentin
Licht: Emily Brassier
Videodesign: Giacinto Caponio
Live-Video: Maxime Jennes, Emilie Montagner
Chorleitung: Jan Schweiger
Kinderchorleitung: Hendrik Derolez