Was hat aber der Orpheus-Mythos mit nuklearen Katastrophen zu tun? Im Hiroshima-Friedensgedächtnismuseum sind Bilder ausgestellt von menschlichen Schatten im Asphalt, die beim Atomblitz entstanden sind, weil die dort zu Tode gekommenen Personen die Fläche abgedeckt hatten. Und bei Ovid ist vom Schattenreich die Rede, in das Orpheus eintritt, um seine Geliebte zu retten.
Beides sind gewaltige Themen, aber über diese Assoziation hinaus gibt es wenig Gemeinsames, was als dramaturgische Antriebsfeder für eine neue Oper dienen könnte. Das Libretto von Katharina Schmitt zeigt auch kein modernes Liebes- oder Beziehungsdrama. O. und E. treten kaum in Interaktion. Der Text besteht über weite Strecken aus Schlagwörtern und Begriffen, der Aufzählung der INES-Skala, von Menschengattungen vom homo rudolfiensis bis zum homo sapiens, aus Zeitansagen, medizinischen Begriffen und mehr. In Erinnerung bleiben: "Ihre Überreste strahlen ewig" und "Eingebrannt in den Asphalt, ein Schatten".
Interessant ist freilich die Aufspaltung von E. in drei Doppelgängerinnen im Moment der Strahlenexposition und wie Adámek das musikalisch umsetzt. Hier erst beginnen E. bzw. alle vier überhaupt zu singen, und zwar hoquetusartig aufgeteilt, die Töne von einer Stimme zur anderen gleitend oder auch für kurze Momente in exaltierten Koloraturen. Vorher sind die Doppelgängerinnen schon als sogenannte Hiroshima-Girls aufgetreten und präsentieren ihre Versöhnungsbotschaften im Swingsound. Insgesamt aber haben Kathrin Zukowksi als E. und ihre drei Mitstreiterinnen wenig Gelegenheit, sich darstellerisch und stimmlich zu profilieren.
Die Figur des O. wird von Hagen Matzeit dargeboten, der sowohl im Bariton– wie im Countertenorfach firm ist und den ganzen Ambitus seiner Stimme erst im Moment des bevorstehenden Todes von E. einsetzen kann.
Vorher hört man von ihm und auch von den anderen vor allem die Sprechstimme, was die ganze Aufführung zunächst im Bereich des musikalisch Unspezifischen belässt, auch wenn alle Silben genau rhythmisiert sind. Adámek schreibt eine repetitive Musik. Das Orchester schleudert Klangsalven wie Geschosse durch den akustischen Raum. Die Instrumente zittern und vibrieren. Weil diese rhythmischen Kaskaden auf den Chor, der übrigens eine zentrale Rolle spielt – sozusagen als zweites Orchester, übergreift, hat man über weite Strecken den Eindruck einer kontrolliert stotternden Musik. Adámek, dirigiert selbst, unterstützt von mindestens drei weiteren Dirigentinnen und Dirigenten. Er ist für François-Xavier Roth eingesprungen, der seine Opernengagements in Köln, solange Vorwürfe sexueller Übergriffigkeit im Raums stehen, abgesagt hat.
Die szenische Umsetzung im Staatenhaus, die ebenfalls von Katharina Schmitt und der Bühnen- und Kostümbilderin Patricia Talacko stammt, integrierte die musikalischen Akteure und die Darsteller auf einer Ebene. Um Chor und Orchester herum liegen hunderte von weißen Plastiksäcken, wahrscheinlich befüllt mit Strahlenmüll. Dann werden Vitrinen herein- und später wieder herausgeschoben mit naturkundlichen Gegenständen und in einer das Krankenlager von E. Dazu Schwarzweiß-Videos mit Außenaufnahmen, vielleicht des Museums.
Adámek und Schmitt hatten 2018 bei der Münchner Biennale mit "Alles klappt" schon einmal ein gemeinsames Opernprojekt präsentiert. Damals ging es um die Vertonung von Postkarten aus Konzentrationslagern. Das war in seiner Knappheit und Unverblümtheit sehr berührend.
Diesmal bei "INES" bleibt der Eindruck einer gewissen Weitschweifigkeit, vor allem, weil die beiden Sujets – Atom und Mythos – nicht konzis verschränkt sind.
Uraufführung: 16.06.2024, weitere Aufführungen bis 03.07.2024
Besetzung:
O. (Orpheus): Hagen Matzeit
E. (Eurydike): Kathrin Zukowski
Doppelgängerinnen von E. / Girls of Hiroshima: Tara Khozein, Alina König Rannenberg, Olga Siemieńczuk
Ärztin: Dalia Schaechter
Männer im Schutzanzug: David Howes, George Ziwziwadze, Lasha Ziwziwadze
Krankenschwester: Meiyan Han
Eine Stimme: Boris Djuric
Chor der Oper Köln
Gürzenich-Orchester Köln
Musikalische Leitung: Ondřej Adámek
Inszenierung: Katharina Schmitt
Bühne & Kostüme: Patricia Talacko
Licht: Nicol Hungsberg
Video: Rebecca Riedel
Chorleitung: Rustam Samedov
Dramaturgie Svenja Gottsmann