Vermisste Kinder: Warn-App NINA könnte bald bei Suche helfen
Stand: 21.06.2024, 19:34 Uhr
Die Suche nach vermissten Kindern ist oft zermürbend - und ein Wettlauf mit der Zeit. Das Bundesinnenministerium prüft, wie die Warnapp NINA bei der Suche helfen könnte. Das Bundeskriminalamt bereitet die polizeiliche Nutzung der App bereits vor.
Von Nina Magoley
Die Suche nach dem vermissten sechsjährigen Arian aus Bremervörde ist den meisten noch gut in Erinnerung: Viele Tage waren Hundertschaften unterwegs, Wälder und Ortschaften wurden durchkämmt, Taucher suchten im Fluss nach dem autistischen Kind. Anwohner sollten sogar in ihre Mülltonnen schauen.
Bislang erfolglos: Arian wird seit dem 22. April vermisst, bis heute hat die Polizei keine Spur von ihm. Mitte Mai hatte die Polizei noch einmal den Fluss Oste vom Ort Bremervörde bis zur Mündung in die Elbe mit Drohnen abgesucht. Die Ermittler erklärten anschließend, dass die fünfköpfige Gruppe ihre Arbeit fortsetzen werde. Noch zwei Monate lang sollen vorhandene Hinweise nach und nach abgearbeitet werden.
Naheliegendste Vermutung sei, so die Polizei, dass Arian einen Unfall ohne fremde Beteiligung hatte - möglicherweise am Fluss.
Mädchen in Sachsen vermisst - und tot aufgefunden
Anfang Juni wurde im sächsischen Döbeln auch die neunjährige Valeriia vermisst. Auch hier mobilisierte die Polizei ein Großaufgebot - mit Drohne, Hubschrauber, Hunden und Tauchern. Am 11. Juni wurde die Leiche des Mädchens in einem Wald entdeckt. Sie wurde getötet, ein 36-jähriger Tatverdächtiger sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft.
Cell Broadcast: Chancen auf Auffindung erhöhen sich
Die "Initiative vermisste Kinder" hatte Valeriias Tod zum Anlass genommen, einmal mehr die Nutzung weiterer Technik bei der Suche nach vermissten Kindern zu nutzen: Über Cell Broadcast, wie sie die NINA-Warnapp benutzt, könnte in solchen Fällen die Bevölkerung schnell und effizient informiert werden. Die Chance auf eine rasche Auffindung der vermissten Person erhöhe sich dadurch, so die Initiative.
Wichtige Informationen, Beschreibungen der vermissten Person und letzte bekannte Aufenthaltsorte könnten schnell an alle Handys im betroffenen Gebiet versendet werden. "Eine breite Masse wird sofort alarmiert und kann aktiv nach der vermissten Person Ausschau halten", so die Initiative.
"Amber Alert" in den USA
In einigen anderen Ländern wird Cell Broadcast längst auch zur Vermisstensuche genutzt. So ist in den USA seit Jahren der sogenannte Amber-Alert im Einsatz: Über Radio, Fernsehen, Mobiltelefone, digitale Straßenschilder und andere Anzeigen werden Infos über ein verschwundenes Kind sofort an die Bevölkerung gesendet. Endgeräte geben dabei einen Ton ab und vibrieren.
Nach Angaben der staatlichen Einrichtung Amber-Alert wurden bis Ende vergangenen Jahres in den USA 1.200 Kinder durch das Alarmsystem wiedergefunden, 180 Kindern sei das Leben gerettet worden.
Die europäische Initiative Amber Alert Europe gibt an, dass das System auch in Frankreich, Tschechien, Griechenland, den Niederlanden, Polen und Irland angewendet werde. Im vergangenen Jahr seien so europaweit 35 Alarme erfolgt.
BKA rüstet Software auf
Beim Bundesinnenministerium ist man für die Idee aufgeschlossen: "Aus polizeifachlicher Sicht ist die Nutzung von Warnsystemen wie zum Beispiel Cell Broadcast für polizeiliche Zwecke zunächst grundsätzlich vorstellbar", sagt eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums auf WDR-Anfrage.
Ansicht der bisherigen NINA-Warnnachricht auf dem Handy
Um NINA auch für die Vermisstensuche zu nutzen, müsste die App aber speziell aufgerüstet werden: Da es sich dabei nicht um Warnmeldungen im Sinne des Katastrophenschutzes handele, müsse das Bundeswarnsystem so angepasst werden, dass die Menschen polizeiliche Fahndungsaufrufe und andere Katastrophenwarnungen - etwa vor Unwetter oder Rauchentwicklung - voneinander unterscheiden zu können.
Das Bundeskriminalamt (BKA) sei bereits dabei, die polizeiliche Nutzung der Warnapp NINA vorzubereiten. Technische Herausforderung ist offenbar die Frage, wie man im bislang sehr knapp gehaltenen Textfeld einer Cell-Broadcast-Nachricht künftig detailliertere Informationen zum Beispiel zu einer vermissten Person senden könnte.
Bund und Länder müssen gemeinsam abstimmen
Nach Informationen des MDR aus dem sächsischen Innenministerium müssten die Bundesländer einer solchen Multi-Nutzung zustimmen. Das Sächsische Staatsministerium des Innern wolle auf der nächsten Sitzung einen entsprechenden Vorschlag machen, erfuhr der MDR. Aus dem NRW-Innenministerium war dazu am Freitag keine Stellungnahme mehr zu bekommen.
Nach welchen Kriterien würde der Alarm ausgelöst?
Offen ist die Frage, wie künftig entschieden wird, nach welchen Kriterien Cell Broadcast bei Vermisstensuchen zum Einsatz käme: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind allein im vergangenen Jahr 16.471 Kinder als vermisst gemeldet worden - wovon der größte Teil glücklicherweise nach kurzer Zeit wieder aufgefunden worden sei.
Seit der Einführung des Warnsystems über Cell Broadcast im Februar 2023 seien bis Februar 2024 insgesamt 219 nichtpolizeiliche Warnmeldungen durch die Bundesländer abgegeben worden.
"Amber Alert Deutschland" schlägt dafür Kriterien vor: Das vermisste Kind ist minderjährig. Es handelt sich mutmaßlich um eine Entführung. Es besteht ein hohes Gesundheitsrisiko für das verschwundene Kind.
Katastrophenforscher: Abnutzungseffekt vorbeugen
Auch Martin Voss, Katastrophenforscher an der Freien Universität Berlin, hält diese Multinutzung der Warn-App für sinnvoll - mit noch einem weiteren Argument: Das trage zur Verbreitung und Bekanntheit von Cell Broadcasting bei.
Dass die App am Ende zu oft schrillt und die Alarme nicht mehr ernst genommen würden, könne allerdings passieren, sagt er auf WDR-Anfrage. Man spreche bei einem solchen Abnutzungseffekt vom "Crying Wolf Phänomen": Menschen würden nicht mehr zuhören, wenn zu häufig oder fehlerhaft gewarnt wird. Dem könne man aber vorbeugen, sagt Voss, indem die Bevölkerung regelmäßig angesprochen werde: "Dass es wichtig ist, zu informieren und Warnungen immer wieder Aufmerksamkeit zu schenken, dass aber Fehlwarnungen nicht gänzlich vermieden werden können".
Die Behörden müssten also "aktiv um Verständnis bitten", dass es auch mal eine Fehlwarnung geben könne - "wenn man es beispielsweise mit unklaren Bedrohungslagen zu tun hat".
Quellen:
- Gespräch mit Sprecherin des Bundesinnenministerium
- Homepage "Initiative vermisste Kinder"
- Homepage Initiative "Amber Alert"
- Homepage "Amber Alert Deutschland"
- Gespräch mit Martin Voss, Freie Universität Berlin
- Nachrichtenagentur dpa
- MDR-Recherche
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 21.06.2024 auch im Hörfunk: WDR 2 Nachrichten, 21 Uhr.