"Ich war 25 Jahre alt, als Kardinal Hengsbach auf dem Essener Burgplatz Gottesdienste gehalten hat. Die Leute schwärmten herbei, das weiß ich noch", erinnert sich eine Frau im Publikum. In ihrer Stimme schwingen hörbar Emotionen mit. Der verstorbene Kardinal Franz Hengsbach, von dem hier die Rede ist, galt bislang als Ikone des Ruhrbistums. Vor wenigen Wochen wurden Missbrauchsvorwürfe gegen ihn öffentlich. Ein Schock für viele Menschen. Nicht nur im Ruhrgebiet. An diesem Donnerstagabend wird genau über diesen Fall beim WDR 5 Stadtgespräch diskutiert.
Etwa 40 Menschen sitzen mit Blick auf eine kleine Bühne in einem Raum der Essener Volkshochschule. Das Gebäude befindet sich mitten in der Essener Innenstadt, unweit vom Essener Dom. Vor diesem stand bis vor kurzem noch eine Statue von Hengsbach. Eine Woche nachdem die Missbrauchsvorwürfe öffentlich geworden sind, wurde sie demontiert. Eine richtige Entscheidung, sind sich viele im Publikum einig. "Es ist auf jeden Fall gut, dass die Statue entfernt wurde", sagt eine Zuschauerin. Aber es gibt auch andere Meinungen: "Hengsbach wird vorverurteilt. Der Mann kann sich ja nicht verteidigen", wirft jemand ein.
Neue Hinweise eingegangen
Die Blicke des Publikums sind nach vorn auf ein Podium gerichtet, auf dem unter anderem Klaus Pfeffer sitzt. Er ist seit 2012 Generalvikar im Bistum Essen und war an der Entscheidung, die Statue zu entfernen, beteiligt. "Vor allem von Betroffenen ging das Signal aus, diesen Schritt zu tun", erklärt er.
Anstelle der Statue soll nun eine Gedenkstätte für Missbrauchsbetroffene entstehen. Das Ruhrbistum hatte im September Vorwürfe der sexualisierten Gewalt gegen den 1991 verstorbenen Kardinal Hengsbach öffentlich gemacht. Es geht um mindestens zwei Fälle von sexualisierter Gewalt an einer Frau und einer Minderjährigen in den 1950er und 1960er Jahren. Klaus Pfeffer berichtet an diesem Abend, dass das Bistum Essen inzwischen zehn weitere Hinweise bekommen habe. Das Bistum nehme die Fälle ernst und es werde weitere Gespräche mit den Betroffenen geben.
Lebenslauf Kardinal Franz Hengsbach (1910 - 1991)
- 1910: Geboren am 10. September im Sauerland
- Priesterausbildung und Theologiestudium in Paderborn und Freiburg
- 1937: Weihe zum Priester
- 1937 - 1946: Kaplan in Gemeinde St. Marien in Herne-Baukau
- 1948 - 1958: Leiter Erzbischöfliches Seelsorgeamt Paderborn
- 1958: Amtseinführung als erster Bischof des neugegründeten Ruhrbistums
- 1988: Papst ernennt Hengsbach zum Kardinal
- 1991: Hengsbach verstarb am 24. Juni in Essen, sein Leichnam wurde in der Krypta des Essener Doms beigesetzt
Hengsbach galt in der öffentlichen Wahrnehmung immer als besonders verbunden mit dem Ruhrgebiet, dem Bergbau und den Menschen in der Region. Er besuchte Kumpels unter Tage und wurde zum „Ehrenbergmann" ernannt. Im Laufe seines Lebens setzte er sich zum Beispiel für die deutsch-polnische Aussöhnung ein oder auch für arbeitslose Jugendliche während der Stahlkrise. 1971 fungierte er als Vermittler bei der Entführung des Aldi-Gründers Albrecht und übergab das Lösegeld. Volksnah, ein Vermittler und Schlichter - so sahen die Menschen ihn. Bislang. Jetzt sollen nach Hengsbach benannte Plätze und Straßen umbenannt werden.
"Er war erzkonservativ"
In der Diskussion wird an diesem Abend immer wieder ein anderes, weniger positives Bild des Geistlichen gezeichnet. "Er hatte eine Macht-Aura, die war enorm", berichtet Klaus Pfeffer. Er hat Hengsbach während seines Studiums erlebt und hätte sich damals nicht getraut, etwas gegen ihn zu sagen. Neben Klaus Pfeffer auf dem Podium sitzt Magdalene Bußmann.
Sie ist Theologin und Vertreterin von "Wir sind Kirche". Die internationale Bewegung setzt sich seit vielen Jahren für eine Erneuerung der römisch-katholischen Kirche ein. "Ich habe ihn erlebt. Ich habe nur äußerste Strenge erfahren. Er war erzkonservativ und stand allen Neuerungen ablehnend gegenüber", so Bußmann. Mehrmals betont sie: "Die Sexualmoral der katholischen Kirche muss auf den Prüfstand."
Es ist eine emotionale Diskussion, in die immer wieder persönliche Erfahrungen einfließen. Zum Beispiel von Johannes Norpoth, der aufgrund von Krankheit nur digital zugeschaltet ist. Norpoth ist Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz. "Fast 30 Jahre habe ich ein Versteckspiel vor mir selber gespielt. Mein Täter war einer der charismatischen Kapläne im Essener Norden."
Und noch ein Betroffener meldet sich zu Wort: "Ich hab mich früher unwahrscheinlich geschämt. Ich bin froh, dass die Statue so schnell weggekommen ist. Stellen Sie sich vor, eine betroffene Person würde plötzlich vor so einer Statue stehen", sagt Markus Elstner und erntet Applaus.
Kritik an Machtstrukturen und Zölibat
Vor allem in einem Punkt sind sich alle einig: Missbrauch in der Kirche - das Thema ist noch nicht zu Ende. Also was tun? Was muss sich ändern? Ist die Kirche überhaupt noch zu retten? Fragen, auf die es auch an diesem Abend keine klaren Antworten gibt. "Das ganze Konzept katholische Kirche ist in Stein gemeißelt. Ich hab keine Ahnung, wie man da was ändern soll", ist eine Meinung aus dem Publikum.
Aber es gibt auch hoffnungsvollere Stimmen und konkrete Forderungen. Es müssten zum Beispiel Machtstrukturen verändert und das Zölibat abgeschafft werden. Und vor allem müsse die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle besser werden. Johannes Norpoth appelliert auch an die Gläubigen: "Wir müssen aufeinander achten und einander wahrnehmen." Das letzte Wort bleibt an diesem Abend bei den Betroffenen. Bei Markus Elstner: "Ich sage Dankeschön, dass die Personen den Mut hatten und das angezeigt haben."