Ein Waldweg auf dem Bonner Venusberg. Vor einer Gruppe von Gebäuden liegen rote Rutschautos. Kinder spielen im Garten. Melanie F. und Erwin G. schauen sich um. Die beiden waren vor 45 Jahren hier im Kinderheim. Hier kümmerte sich ein junger Mann um sie, Hans Bernhard Ue.. Er engagierte sich ehrenamtlich im Kinderheim, gab Nachhilfe und absolvierte gerade seine Ausbildung zum Priester.
"Er war nett und zugewandt, bei ihm musste man sich nicht an alle Regeln halten", erinnert sich Erwin G. Er fasst Vertrauen, der Priester will ihn als Pflegesohn mit zu sich nach Hause nehmen.
Priester schenkt ihr Kätzchen
"Ich wollte eigentlich für mich sein, mit niemandem etwas zu tun haben", sagt Melanie F.. Der angehende Priester schenkt ihr ein Kätzchen, soll sich um sie zu kümmern, so erinnert sie sich. Schon im Kinderheim badet er die 11-Jährige, schläft gegen ihren Willen in ihrem Bett.
Mit der Genehmigung des damaligen Kardinals Joseph Höffner bekommt er das Recht, die beiden als Pflegekinder mit zu sich nach Hause zu nehmen. Nach Alfter in der Nähe von Bonn. "Da hat es dann angefangen, dass er mich ausgezogen hat, meinen Körper angefasst hat, und ich sollte seinen anfassen", erzählt Melanie F. .
Sie erzählt zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ihre Geschichte. Ihre einzige Bitte: Den Nachnamen nicht sagen, damit ihre Privatsphäre noch etwas geschützt bleibt.
Sechs Jahre sexualisierte Gewalt
Über sechs Jahre tat der Priester ihr sexualisierte Gewalt an. Zweimal wird sie sogar schwanger. Das erste Mal, mit etwa 15, bemerkt nur er die Schwangerschaft, bringt sie zu einem Frauenarzt. Erst Jahre später wird ihr klar, dass dort eine Abtreibung vorgenommen wurde.
Die zweite Schwangerschaft, da ist sie schon 18, beendet sie selbst. Bis heute, sagt sie, quäle sie der Gedanke, ob sie damit eine Sünde begangen habe und nach ihrem Tod zur Rechenschaft gezogen werde. Der Glaube, den der Täter ihr nahebrachte, er ist immer noch da.
Ihre Geschichte wurde öffentlich, als sie in einem Gerichtsprozess gegen Hans Bernhard Ue. aussagte. Allerdings nur als Zeugin. Andere Frauen hatten ihn beschuldigt, am Ende wurde er zu 12 Jahren Haft verurteilt. 40 Jahre lang hatte er Mädchen sexualisierte Gewalt angetan. Ein Serientäter. Melanie F. war - vermutlich - sein erstes Opfer. Die Taten sind strafrechtlich lange verjährt.
Klagen will sie nun gegen die katholische Kirche, das ist rechtlich noch möglich. Sie will 850.000 Euro Schmerzensgeld vom Erzbistum Köln. Die Verantwortlichen um Kardinal Höffner genehmigten, es zwar, dass der Priester die Kinder in Obhut nimmt. Aber sie kontrollierten nie wieder, wie es ihnen im Haushalt des Priesters ging. Der Täter umging die Auflage, eine Haushälterin einzustellen. "Die hätte bestimmt bemerkt, dass ich gar kein eigenes Bett hatte", sagt Melanie F. heute.
Erzbistum kann eventuell nicht belangt werden
Doch kurz nach Ostern bekamen sie und ihre Anwälte ein Schreiben vom Gericht. Das Erzbistum könne, anders als in einer anderen Schmerzensgeldklage, in diesem Fall vielleicht gar nicht belangt werden. Der Priester habe doch den Missbrauch an der Pflegetochter als Privatmann begangen und nicht als Geistlicher.
Ihr Anwalt, Eberhard Luetjohann, war entsetzt über das Schreiben. Zumal es sehr kurzfristig vor Prozessbeginn kam, als alle gerade in den Osterferien waren. Ein Priester sei immer im Dienst, sagt er, er könne sich ja auch am Wochenende nicht frei nehme vom Zölibat.
Luetjohann ist außerdem überzeugt, dass der Hans Bernhard Ue. die Kinder nur aufnehmen durfte, weil er Pfarrer war. "Wo sind Kinder besser aufgehoben als bei einem katholischen Priester? Das war damals das Ansehen und die Vorstellung von der katholischen Kirche."
Zweifel an Auslegung des Kölner Landgerichts
Auch der Kirchenrechtler Thomas Schüller hat Zweifel an der Auslegung des Kölner Landgerichts. Theologisch, sagt er dem WDR, sei es so "dass ein Priester immer im Dienst ist, das ist das Besondere am Priesterberuf, dass man 24 Stunden im Dienst ist und sich dementsprechend gemäß dem Weiheversprechen zu verhalten hat." Auch für Schüller ist die Genehmigung durch den Kardinal ein entscheidender Punkt. "Das heißt, es wurde amtlich festgestellt, dass es sich mit seinem Dienst verträgt und dass es nun Teil seines Dienstes ist."
Außerdem warnt Schüller davor, dass eine solche Rechtsauffassung des Kölner Gerichts Schule machen könnte. "Das würde bedeuten, dass Priester, die ihre priesterlich-seelsorgliche Ausbildung ausnutzen, um Opfer zu finden, dass die zukünftig sagen können: 'Das sexualstrafrechtliche Geschehen war in meinem Privatleben'." Das sei für andere Betroffene, die klagen wollen, fatal.
Erzbistum Köln äußert sich nicht
Die Kirche hat Hans Bernhard Ue. mittlerweile auch vor einem Kirchengericht verurteilt. Er darf den Beruf des Priesters nicht mehr ausüben. Zur Verschiebung des Verfahrens wollte sich das Erzbistum Köln auf WDR-Anfrage nicht äußern. Das Erzbistum verlangt, die Klage zurückzuweisen.
Melanie F. sagt, ihr Pflegevater sei nur im Urlaub mal privat gewesen. Sonst habe rund um die Uhr das Telefon geklingelt und jemand habe den Herrn Pastor sprechen wollen. Bei der Klage, darauf weist sie hin, gehe es ihr nicht um das viele Geld. Die Kirche müsse sich wieder darauf besinnen, dass sie den Menschen eigentlich helfen soll, statt ihnen Schaden zuzufügen.
Über dieses Thema berichtet der WDR am 8.4.2024 auch ab 19.30 Uhr in der Lokalzeit aus Köln im WDR Fernsehen.
Unsere Quellen:
- Kölner Landgericht
- Gespräche mit Melanie F. und Erwin G.
- Anwalt Eberhard Luetjohann
- Kirchenrechtler Thomas Schüller
- Erzbistum Köln