Stellen wir uns die Kommunalwahl als Kaffeekränzchen im Familienkreis vor. Aus Sicht der vier Parteien, die vor das Landesverfassungsgericht ziehen, funktioniert das neue Verfahren zur Sitzverteilung ungefähr so, als wenn die rundliche Tante und der beleibte Onkel zusätzlich zu ihrem Tortenstück auch noch alle Bruchstücke abbekommen, die beim Zerteilen des Kuchens unvermeidlich abfallen.
Das heißt, die beiden gut genährten Verwandten bekommen, nur weil sie gut genährt sind, automatisch mehr auf den Teller, während die dünnen Nichten und Neffen weniger abbekommen, weil sie eben spindeldürr sind. Und die Hungerhaken gehen ganz leer aus.
Nun ist eine Kommunalwahl kein Kaffeekränzchen. Für Kandidaten und Parteien geht es um die entscheidende Frage, wie viele Sitze sie in den Kommunalparlamenten erringen – und ob sie dort überhaupt vertreten sind. Da es keine Sperrklausel mehr bei der Wahl gibt (ganz früher gab es die Fünf-Prozent-Hürde, später wurde sie auf 2,5 Prozent gesenkt und dann gerichtlich komplett abgeschafft), sitzen auch sehr kleine Parteien mit manchmal nur einem Sitz im Stadtrat.
Bisher vier Klagen beim Landesverfassungsgericht
Am Dienstag legte die FDP ihre Klageschrift gegen diese Wahlrechtsänderung vor. Sie stammt aus der Feder des emeritierten Rechtsprofessors Martin Morlok, der als Experte für Parteienrecht gilt. Er wird die FDP vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster vertreten.
Aus Sicht der kleineren Parteien – neben der FDP klagen auch BSW, Volt und die Piratenpartei – hat das im Juli vom Landtag beschlossene neue Berechnungsverfahrungen für sie gravierende und negative Konsequenzen, FDP-Landeschef Henning Höne spricht von einer "systematischen Verzerrung" zu Lasten kleinerer Parteien.
Konkret geht um die Frage, nach welchem Verfahren die abgegebenen Stimmen in Parlamentssitze umgerechnet werden. Hat ein Stadtrat 50 Sitze und eine Partei erringt 30 Prozent, ist die Sache einfach: 30 Prozent von 50 Sitzen sind genau 15. Meistens aber kommen bei Wahlen ziemlich krumme Prozentzahlen heraus, es gibt aber nur ganze Sitze. Und nun kommt es auf die Stellen nach dem Komma an, genauer gesagt geht es um das Verfahren, mit dem die Nachkommastellen auf- beziehungsweise abgerundet werden.
Eine Frage der Rundungen
Vor der Änderung des Kommunalwahlgesetzes wurde gerundet, wie die meisten es in der Schule gelernt haben: Bei 14,4 Sitzen wurde auf 14 abgerundet, bei 14,5 auf 15 Sitze aufgerundet.
Das neue Verfahren, entwickelt wurde es von Simon Rock, einem Abgeordneten der Grünen im Landtag, rundet nun in Abhängigkeit davon, wie groß der Stimmanteil einer Partei insgesamt ist. Die Logik dahinter ist: Wenn eine kleine Partei zum Beispiel Stimmen im Gegenwert von 0,5 Prozent eines Ratssitzes bekommt, dann profitiert sie in weitaus größerem Maße von der Aufrundung auf einen Sitz, als eine Partei, deren Ergebnis von 14,5 auf 15 Sitze aufgerundet wird. Um im Bild vom Kaffeekränzchen zu bleiben: Ein Kuchenkrümel ist im Verhältnis zu einem anderen Kuchenkrümel mehr als im Verhältnis zu einem veritablen Tortenstück.
Ist das neue Wahlrecht verfassungswidrig?
In genau dieser Betrachtung im Nachhinein sieht Parteienrechtler Morlok eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und er will das Gericht davon überzeugen, dass das neue Kommunalwahlrecht verfassungswidrig ist.
Morlok argumentiert, dass nach dem neuen Rock-Verfahren nicht mehr jede Wählerstimme das gleiche Gewicht für die Zusammensetzung eines Parlaments hat. Wenn die Rundung der Nachkommastellen vom Gesamtergebnis einer Partei abhängig gemacht wird, sei die "Erfolgswertgleichheit" nicht mehr gegeben. Dadurch entstehe eine "generelle Verzerrung zwischen stimmstarken und stimmschwachen Parteien". Ähnlich argumentieren auch die anderen Klägerinnen.
Die Regierungsfraktionen von CDU und Grünen, die zusammen mit der SPD im Sommer das neue Wahlgesetz verabschiedet hatten, sehen in der alten Regel eine systematische Bevorteilung kleinerer Parteien. Aus Sorge vor der weiteren Zersplitterung der Kommunalparlamente, so argumentierten sie, müsse das bisherige Wahlrecht geändert werden.
Parteienrechtler Martin Morlok rechnet nicht damit, dass die Klage vor dem NRW-Verfassungsgerichtshof einen Einfluss auf dem Termin der Kommunalwahl am 14. September 2025 haben könnte. Er glaubt, das Gericht werde sich rechtzeitig mit seiner und den Klagen der anderen Parteien beschäftigen. Und selbst wenn das neue Gesetz für verfassungswidrig erkannt würde: Dann sei es ungültig und es werde einfach nach dem alten Recht gezählt.
Unsere Quellen:
- Pressekonferenz mit Martin Morlok und Henning Höne
- Pressemitteilungen des NRW-Verfassungsgerichtshofs