Migrationspolitik: NRW-Grüne werden lauter
Die NRW-Grünen betonen in der Migrationspolitik stärker ihre Haltung - auch gegenüber der CDU. Das hat mit dem Wahlkampf zu tun.
Von Selina Marx
Dass dieses Thema Konfliktpotenzial birgt, war schon klar, als sich CDU und Grüne im Sommer 2022 im Düsseldorfer Malkasten zu Koalitionsgesprächen trafen. In der Migrationspolitik liegen die Parteien traditionell weit auseinander. Dennoch regierte Schwarz-Grün bisher geräuschlos.
Tim Achtermeyer, Co-Landesvorsitzender der Grünen in NRW
Erst jetzt, mit Beginn des Bundestagswahlkampfs, betonen die Grünen ihre Haltung wieder stärker. Der Landesvorsitzende der NRW-Grünen, Tim Achtermeyer, sagte dazu im Interview mit dem WDR: "Wir sind ja nicht mit der CDU zu einer Partei verschmolzen, nur weil wir koalieren. Und wir haben in der Migrationspolitik eben unterschiedliche Vorstellungen und dann finde ich es auch in Ordnung, die kenntlich zu machen - gerade wenn man sich auf eine Bundestagswahl hinbewegt."
Klare Positionierung in den Landtagsdebatten
Verena Schäffer, Fraktionsvorsitzende Grüne in NRW
Deutlich war das in den Landtagsdebatten vor Weihnachten zu hören. Die Vorsitzende der Grünen im Landtag, Verena Schäffer, betonte in ihrer Rede: "Wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr Zuwanderung. Und das ist nicht nur ein Gewinn für unsere Wirtschaft, sondern auch ein Gewinn für unsere Gesellschaft."
Doch bei der Fraktionschefin wirkte das nicht wie Wahlkampftaktik, sondern eher wie ein Befreiungsschlag nach den Debatten und der Kritik um den Solinger Terroranschlag.
Solingen veränderte Alles
Rückblick: Nach dem islamistischen Attentat von Solingen mit drei Toten im August verabschiedete die NRW-Landesregierung schnell ein 400 Millionen Euro schweres Maßnahmenpaket. Darin enthalten: beschleunigte Abschiebeverfahren, eine weitere Abschiebehaftanstalt und die Stärkung der Sicherheitsbehörden. Zwar enthält es auch Geld für Präventionsmaßnahmen gegen Radikalisierung - trotzdem war es für die Grünen insgesamt eine Kehrtwende.
Denn usprünglich hatte das Thema im Koalitionsvertrag einen grünen Anstrich: "NRW ist ein weltoffenes Einwanderungsland" heißt es dort. Die Abschiebehaft - um ein konkretes Beispiel zu nennen - war demnach "nur als äußerstes Mittel zulässig". Nach Solingen war davon erstmal nicht mehr viel übrig.
Politikwissenschaftler Martin Florack
Politikwissenschaftler Martin Florack glaubt, dass die CDU mit diesem Sicherheitspaket eine "machtpolitische Prämie einfahren konnte". Die Grünen hingegen hätten vor der Wahl gestanden, entweder die angezählte Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) im Amt zu halten, "dafür aber Kröten zu schlucken" oder eben einen alternativen Weg zu gehen. Die Entscheidung fiel für Paul. Und es sollte nicht der letzte umstrittene Kompromiss bleiben.
Unmut über Vorratsdatenspeicherung
Nur widerwillig trugen die Grünen im Herbst den NRW-Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung mit. IP-Adressen sollen demnach einen Monat lang gespeichert werden dürfen. Und die Grünen unterstützten die unionsgeführten Länder im Bundesrat bei ihrer Blockade des Sicherheitspakets der Ampel-Regierung, an der die Grünen beteiligt sind.
Besonders bei der Grünen Jugend und an der Basis waren diese Kompromisse auf Widerstand gestoßen. Der Vorsitzende der Grünen Jugend in NRW, Björn Maue, sagte dem WDR, dass die Kompromissbereitschaft in Richtung CDU in NRW bis an die Schmerzgrenze ginge.
Spätestens im Wahlkampf müssen die Grünen die Kritiker in den eigenen Reihen hinter sich versammeln. Da kann eine klare Kante hilfreich sein.
Umstrittene Bezahlkarte für Geflüchtete
Mehrdad Mostofizadeh (Grüne)
Die zeigte auch der Parlamentarische Geschäftsführer der NRW-Grünen, Mehrdad Mostofizadeh, als es am Mittwoch vor Weihnachten um die Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete im NRW-Landtag ging. Offen erzählte er: "Ich will nicht verhehlen, dass wir in der Fraktion lange über die Karte diskutiert und über die Sinnhaftigkeit gerungen haben." Deutlicher kann ein Juniorpartner seinen Unmut über einen Kompromiss kaum machen, ohne unhöflich zu werden.
Außerdem erklärt Mostofizadeh in der Rede mehrfach, dass es für die NRW-Kommunen eine "Opt-out-Regel" gebe. Sie können also per Beschluss entscheiden, weiterhin Bargeld statt der Karte an die Geflüchteten auszugeben. Eine Möglichkeit, die längst nicht alle Bundesländer anbieten.
Mostofizadeh hat dabei den Rückhalt seines Parteichefs Tim Achtermeyer: "Ich glaube, dass es immer gut ist, wenn man auf der einen Seite klar macht, wofür man steht, aber auf der anderen Seite - und das ist überhaupt kein Widerspruch - sich zusammenringt." Eine demokratische Partei brauche beides: eine Haltung und die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen.
Doch es gibt auch bereits die ersten Landtagsabgeordneten, die den Bogen weiterspannen. Stefan Engsfeld (Grüne) schrieb nach der Debatte auf der Social-Media-Plattform Instagram, dass er die Bezahlkarte ablehne: "Ich glaube, dass eine Bezahlkarte geflüchtete Menschen stigmatisiert, sie in ihrer Lebensführung bevormundet und in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindert."
Dass jemand aus den Reihen der Grünen so offen ausschert, ist seit Regierungsbeginn so gut wie gar nicht vorgekommen. Doch die Folgen des Solinger Terroranschlags und der anlaufende Wahlkampf bieten Anlass dafür, die eigene Haltung deutlicher zu kommunizieren.
Über dieses Thema berichteten wir im Morgenecho auf WDR5.