Der mitgliederstärkste Landesverband der SPD debattiert - wie mittlerweile die ganze Partei und die Öffentlichkeit - darüber, ob Kanzler Olaf Scholz kurz vor der Bundestagswahl noch als Kandidat abgelöst werden soll. Auch in NRW hat Verteidigungsminister Boris Pistorius Unterstützer.
Die SPD-Debatte ist dynamisch, heißt es aus Parteikreisen. Viele Optionen scheinen möglich - dass sich die Führungsgremien im Bund zeitnah hinter Scholz stellen, aber auch, dass der Kanzlerkandidat ausgetauscht wird. Der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Rolf Mützenich aus Köln, hatte ein "Grummeln" an der Parteibasis eingeräumt. Das Grummeln wird lauter.
Wie sehr die Partei angesichts chronisch schlechter Umfragewerte mit sich ringt, zeigt ein Blick in einzelne NRW-Städte. Der Düsseldorfer Bundestagsabgeordnete Andreas Rimkus sagte dem "Stern": "Wir haben einen Kanzler. Und deshalb haben wir auch einen Kanzlerkandidaten. Das sollten wir jetzt offiziell klarkriegen."
"Eine interessante Situation"
Rimkus tritt allerdings nicht wieder an. Der neue Kandidat im Düsseldorfer Süden ist Adis Selimi. Der 30-Jährige sagte am Montag dem WDR: "Olaf Scholz hat als Kanzler herausragende Arbeit geleistet. Es ist für ihn nach dem Ampel-Aus natürlich eine schwierige Situation. Boris Pistorius ist ein sehr beliebter Verteidigungsminister." Das merke er auch im Wahlkreis, so Selimi.
"Für uns als Partei ist es eine interessante Situation. Die SPD wird den Kanzlerkandidaten nominieren und dann treten wir gemeinsam als Team an. Ich denke, das ist der richtige Kurs." Eine klare Festlegung auf Scholz vermeidet der junge Direktkandidat also.
Selimi antwortet ähnlich ausweichend wie Pistorius, der seit Wochen in Interviews eine Kanzlerkandidatur nicht ausschließt. Der Verteidigungsminister stellte sich am Wochenende auch hinter Aussagen von Ex-Parteichef Franz Müntefering, der gesagt hatte, es gebe keinen Automatismus, dass Scholz Kanzlerkandidat sein müsse. "Die Partei wird entscheiden und dann ist gut", sagte Pistorius.
Pistorius hat laut Umfragen viel bessere persönliche Beliebtheitswerte als Scholz. Eine knappe Mehrheit der SPD-Anhänger hält den amtierenden Kanzler nicht für einen guten Kanzlerkandidaten.
Eine Überlebensfrage für die SPD?
Wie in Düsseldorf sieht es in Bochum aus: eine Partei, zwei Meinungen zur K-Frage. Die Stimmung in der Partei spreche klar für einen Wechsel, sagte zuletzt der Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Bochum, Serdar Yüksel, dem "Stern". "Wenn Sie in der SPD die Mitglieder befragen würden, wären 80 Prozent für Pistorius." Ob Scholz noch einmal antrete, sei auch nicht allein seine persönliche Entscheidung. "Es geht jetzt um die Frage, ob die SPD überlebt."
Der Bochumer SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer hält dagegen. Bei einer internen Abstimmung in einem Bochumer Bezirk seien 70 Prozent der Delegierten für Scholz gewesen, 30 Prozent für Pistorius. Schäfer hält den Kanzler "fachlich" für die beste Option. Zudem habe sich der Kanzler bei der Kommunikation verbessert.
Schäfer fordert einen schnellen Beschluss der SPD-Spitze für Scholz als Kandidat: "Das erwarte ich jetzt vom Parteivorstand."
Die NRW-SPD hat bei der Bundestagswahl einiges zu verlieren. 2021 waren die Sozialdemokraten auch im bevölkerungsreichsten Bundesland stärkste Kraft geworden. 2025 droht hingegen eine schwere Niederlage gegen Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU).
Die Co-Vorsitzende der Landespartei, Sarah Philipp, sagt: "Die Partei stellt sich für einen kurzen und intensiven Wahlkampf auf. Dass mit Olaf Scholz und Boris Pistorius gleich zwei Sozialdemokraten zugetraut wird, ein guter Kanzler zu sein, ist dabei eine Stärke." Auch NRW-Juso-Chefin Nina Gaedicke sagt: "Einen Automatismus bei der Besetzung der Kanzlerkandidatur gibt es nicht." Also: nichts ist ausgeschlossen.
Kevin Waldeck, junger SPD-Bundestagskandidat im Wahlkreis Wesel I, hingegen warnt: "Angesichts der Kürze der Zeit, wäre es meiner Meinung nach keine gute Idee, jetzt noch den Kandidaten auszuwechseln." Auch in seinem Wahlkreis höre er immer wieder Stimmen, die für Pistorius als Kanzlerkandidat seien. Waldeck: "Aber er ist beliebt als Verteidigungsminister. Sobald wir ihn aufs Schild heben als Kanzlerkandidat, kann sich das ändern – da es dann auch um andere Themen geht."
Politologe: NRW nimmt Einfluss
Der SPD-Landesverband NRW spiele eine wichtige Rolle in der aktuellen Debatte, analysiert der Düsseldorfer Parteienforscher Thomas Poguntke. Die NRW-SPD stelle viele Delegierte auf dem Parteitag.
49 der 207 sozialdemokratischen Abgeordneten im Bundestag kommen aus Nordrhein-Westfalen. "Da Bundestagsabgeordnete gerne wieder gewählt werden wollen und ihre Wahlkreisorganisationen ein sehr großes Interesse daran haben, im Bundestag mit einem MdB vertreten zu sein, wird ein großer Landesverband immer sein Gewicht in eine Kandidatendiskussion einbringen." Schließlich sei der Spitzenkandidat wichtig für das Wahlergebnis, so der Politologe.