Die Zahlen, die das NRW-Familienministerium veröffentlicht hat, sind bemerkenswert. Im ersten Halbjahr 2023 betrug die Gesamtsumme der den beiden Landesjugendämtern gemeldeten Gewalttaten in Kitas 782. Im gesamten Vorjahr waren es 1.011. Ebenfalls angestiegen ist die Zahl des gemeldeten "pädagogischen Fehlverhaltens", sie betrug für das erste Halbjahr 2023 für ganz NRW 277, im Gesamt-Vorjahr waren es 353. Die Zahlen werden in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag mitgeteilt.
Was ist da los in den Kitas? Woher kommt der Anstieg der Gewalt?
Gewalt durch Kinder besonders hoch
Zunächst noch ein Blick auf die konkreten Zahlen: Das Ministerium schlüsselt die erfassten Ereignisse in verschiedene Kategorien auf. Erfasst werden "sexuelle Übergriffe/Gewalt" und "körperliche Übergriffe/Körperverletzungen", wobei jeweils unterschieden wird, ob diese Gewalt von Kindern oder von Mitarbeitenden ausgeübt wird. Besonders eklatant ist die Zahl der Gewalt durch Kinder: Für das erste Halbjahr 2023 liegen die Meldungen bei 281 und damit über der Gesamtzahl für 2022, die 267 betrug. Wobei sich die Gewalt durch Kinder gegen andere Kinder richtete.
Aber auch bei den "sexuellen Übergriffen/Gewalt" findet sich eine hohe Zahl bei den gemeldeten Taten, die durch Kinder verübt wurden: 105 allein im ersten Halbjahr 2023, die Gesamtzahl für 2022 beträgt 128. Zum Vergleich die Zahl für die Gewalt in dieser Kategorie durch Mitarbeitende: Sie liegt für das erste Halbjahr 2023 bei 34, im Vergleich zu 82 für das Jahr 2022.
Ministerium sieht gestiegene Sensibilisierung
Das zuständige Ministerium für Kinder, Jugend und Familie erklärt den Anstieg unter anderem mit einer gewachsenen Aufmerksamkeit für Gewalt in Kitas: "Es ist von einer erhöhten Sensibilisierung bei den Trägern von Kindertageseinrichtungen, den Einrichtungen selbst und den Eltern auszugehen." Das liege unter anderem an "öffentlich gewordenen Kinderschutzfällen (z.B. Lügde, Bergisch Gladbach, Münster und Viersen)". Zudem sieht das Ministerium einen "Erfolg der Maßnahmen der Landesjugendämter, in denen Träger intensiv über die bestehenden Meldepflichten entsprechender Vorfälle" informiert worden seien.
Diese These stützt auch Klaus Bremen vom Deutschen Kita-Verband NRW. Dem WDR sagte er, er habe nicht den Eindruck, dass das Problem mit Gewalt und Übergriffen an Kitas tatsächlich größer geworden ist. Nach aufsehenerregenden Fällen wie eine Viersener Erzieherin, die ein Kind getötet hat, seien Meldepflichten verschärft worden. Und auch allgemein seien Kitas und Eltern heute sensibler: "Die Schwelle, diese Dinge zu melden, ist niedriger geworden." Bremen begrüßt, dass über Gewalt in Kitas immer wieder gesprochen wird. Auch im Verband und auf Tagungen sei die Problematik sehr präsent: "Das ist ein Thema, womit sich die Fachszene intensiv beschäftigt."
Weitere Gründe für die Gewalt in Kitas
Das Ministerium nennt weitere Gründe als Ursachen für Kindeswohlgefährdungen. Sie seien in der Regel "multikausal". Für Kitas werden konkret folgende Punkte benannt:
- Individuelle Überforderungssituationen
- mangelnde pädagogische Handlungsfähigkeiten
- Personalmangel, Aufsichtspflichtverletzungen
- Pädagogische Grundhaltungen
- Kommunikationsstörungen
SPD ruft zu Klärung der Ursachen auf
Der familienpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag, Dennis Mälzer, sagte dazu: "Diese Meldungen zu Gewalt in Kitas müssen uns alle sehr hellhörig werden lassen. Vor allem die Frage nach den Ursachen muss schnellstmöglich beantwortet werden." Die Corona-Pandemie und die folgende Erkrankungswelle hätten dem Personal viel abverlangt: "Das hat viel Kraft gekostet."
Die Ursachen für die Gewalt unter Kindern müssten genau untersucht werden, forderte Mälzer im WDR: Die sexualisierte Gewalt unter Kindern sei oftmals ein Hinweis darauf, dass diese Kinder selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Mälzer fordert ein "Kita-Rettungspaket" in Höhe von fünf Millionen Euro, damit Einrichtungen wegen der gestiegenen Personalkosten nicht gezwungen sind, Stellen abzubauen. Und er wünscht sich eine unabhängige Studie, die vom Land beauftragt wird. Dazu heißt es aus dem Ministerium, bei einer entsprechenden Studie würde es sich um eine "hochkomplexe Untersuchung" handeln. Man wolle zunächst die Ergebnisse und Erkenntnisse aus einer geplanten Studie der "Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs", abwarten.
Kinderschutzbund spricht von "Alarmsignal"
Für die Vorsitzende des Kinderschutzbunds NRW, Gaby Flößer, ist einer der Gründe der Zunahme von Gewalt die Personallage in den Kitas. Fachkräftemangel und Überforderung seien zwei Seiten einer Medaille. Dem WDR sagte sie: "Wenn ich kein Personal habe, dann ist das wenige Personal, das ich habe, immer am Limit, an der Belastungsgrenze."
Dass die Gewalt, die von und unter Kindern ausgeübt wird, so stark angestiegen ist, nennt Flößer ein "Alarmsignal" und erklärt weiter: "Das beobachten wir schon sehr viel länger, als die aktuell veröffentlichten Zahlen. Eine Ursache ist sicherlich, dass Kinder in jedem Umfeld, sei es in der Kita oder Zuhause, mit Gewalt konfrontiert werden und Gewalt lernen."
Die Vorsitzende des Kinderschutzbund-Landesverbands fordert, die Erziehungs- und Sozialberufe aufzuwerten, nicht nur über Tarifabschlüsse, sondern auch über eine Imagekampagne, die Land und Bund "großflächig anlegen müssen".
Zahl der Kitas gestiegen
Zur Einordnung der Zahlen ist übrigens auch zu bedenken, dass die Anzahl der Kitas in NRW in den letzten Jahren zugenommen hat: Im Jahr 2011 lag die Anzahl bei knapp 9.500 und stieg 2023 auf ein Rekordhoch von knapp 10.700 Einrichtungen. Das sind rund 300 mehr als im Vorjahr 2022. Die Angaben stammen von IT NRW.