Nach der Wahl in Brandenburg | WDR Aktuelle Stunde

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"Meine Stimme bewegt nichts": Was gegen den Frust junger Wähler hilft

Stand: 23.09.2024, 18:11 Uhr

Egal, ob Sachsen, Thüringen oder zuletzt Brandenburg: Die AfD kommt in Ostdeutschland bei vielen jungen Menschen gut an. Das muss aber nicht so bleiben, sagt der Soziologe Johannes Kiess.

Von Sabine Schmitt

Johannes Kiess ist stellvertretender Direktor des an der Universität Leipzig angesiedelten Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) und forscht zum Thema Demokratie. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, wie politische Einstellungen entstehen und sich verbreiten. Wenn es um politische Meinungsbildung von jungen Menschen geht, sieht er Unterschiede zwischen früher und heute und zwischen Ost und West. An die Politik hat er eine klare Botschaft, um die Demokratie zu sichern.

WDR: Bei Wahlen in Ostdeutschland haben viele junge Menschen die AfD gewählt. Womit hängt das Ihrer Meinung nach zusammen?

Johannes Kiess: Dafür gibt viele Gründe. Ein wichtiger Aspekt ist, dass junge Menschen eine geringere Parteibindung haben. Das liegt daran, dass ihre politische Sozialisation noch nicht abgeschlossen ist. Und dann haben wir in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte die Situation, dass die AfD mit einem starken Fokus auf Migrationspolitik eben sehr stark mobilisieren kann, gerade bei diesen jungen Menschen.

Hat sich bei dieser Sozialisation etwas verändert über die Jahre oder Jahrzehnte?

Johannes Kiess: Früher hatten wir stärker gefestigte politische Milieus. Wenn ich in den 70er-Jahren einen Vater hatte, der SPD-Mitglied war oder Gewerkschaftsmitglied, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass ich selbst SPD-Mitglied wurde oder zumindest SPD wähle, sehr, sehr hoch. Es gab also starke politische Milieus. Für die CDU war es das katholisch-christliche Milieu. Diese Milieubindung hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Das sehen wir vor allem bei jüngeren Menschen. Das ist etwas, was auch in anderen westlichen Demokratien der Fall ist. Dahinter stecken Individualisierungsprozesse. Unsere Gesellschaften verändern sich und das immer schneller.

Eine politische Heimat zu finden, dauert heute zum Teil länger, zum Teil kann sie sich auch gar nicht mehr so sehr verfestigen, wie das früher mal der Fall war. Johannes Kiess, Soziologe

Was bedeutet das für die Politik?

Johannes Kiess: Menschen sind heute eher bereit, bei Wahlen ihre Partei-Allianzen zu verändern und zu sagen: 'Diesmal wähle ich die Grünen, das nächste Mal wähle ich wieder die SPD oder vielleicht diesmal doch die CDU, weil etwa wie in Sachsen nur dann die stärkste Kraft eine demokratische Partei bleiben kann.' Diese Frage des taktischen Wählens hängt damit zusammen, dass Menschen, wenn sie wählen, eben stärker auf kurzfristige Meinungsverschiebungen und auch taktische Überlegungen zugreifen, statt auf eine gefestigte politische Identität. 

Heute die eine Partei, morgen eine andere: Gilt das nur für junge Menschen oder auch für die Älteren? 

Johannes Kiess: Das gilt tendenziell auch für ältere Menschen, aber weniger stark. Ältere sind noch stärker in einer Zeit groß geworden, in der man noch eine festere politische Identität ausgeprägt hat. Das ist bei jungen Menschen eben nicht so sehr der Fall. 

Gibt es auch einen Unterschied zwischen Ost und West?

Johannes Kiess: Eine demokratische Haltung zu bilden ist im Osten herausfordernder, weil Strukturen fehlen. Mit den Transformationsprozessen sind in den 90er-Jahren soziale Institutionen weggebrochen. Parteien, Gewerkschaften und andere Akteure konnten das nicht im gleichen Maße wieder aufbauen, auch, weil viele Menschen weggezogen sind. Die Folge ist, dass wir heute schwächere Institutionen haben, es fehlen also Angebote. Wenn es in meinem Dorf keinen Ortsverband der SPD gibt, bekomme ich auch keinen direkten Kontakt zur Partei. Das gilt für Gewerkschaften und Kirche genauso. Bei den Jüngeren fehlen die Jugendclubs.

Es gibt ja auch unterschiedliche Phasen der Sozialisation. Schule, Vereine und Peergroups spielen da ja eine Rolle und auch immer mehr soziale Medien. Ist da ein Ungleichgewicht entstanden? 

Johannes Kiess: Auf jeden Fall. Dabei hat auch die Pandemie eine Rolle gespielt: Schulen waren lange zu, soziale Angebote fehlten, Jugendclubs waren eine ganze Weile zu, Sportvereine konnten nichts anbieten. Das hat einem Prozess, der eh schon lief, einen Schub gegeben, nämlich, dass sich Interaktionen immer stärker in die sozialen Medien und auf digitale Plattformen verlagern. Das hat zu einer ganzen Reihe von Konsequenzen geführt - etwa zu einer höheren psychischen Belastung unter jungen Menschen, aber eben auch einer schlechten Erreichbarkeit durch Angebote von unterschiedlichen Trägern und auch Schulen.

Was ist die Konsequenz?

Johannes Kiess Stellvertretender Direktor Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung Universität Leipzig

Vereine, Schulen, der Arbeitsplatz, das sind Orte, an denen besonders junge Menschen, bei denen die politische Sozialisation noch nicht abgeschlossen ist, demokratische Erfahrungen machen. Dabei geht es zum Beispiel darum, Kompromisse auszuhandeln und das dann auch auszuhalten und zu sagen: "Okay, diesmal haben wir uns darauf geeinigt. Damit bin ich eigentlich nicht einverstanden, aber es ist das, worauf wir uns einigen konnten. Beim nächsten Mal handeln wir wieder was Neues aus." Das sind elementare Erfahrungen des Miteinanders, des gemeinsamen Aushandels, die heute weniger stattfinden. Bei Socialmedia scrolle ich halt weiter, wenn mir was nicht passt. Und das hat dann auch Einfluss, eben nicht nur auf die psychische Gesundheit, sondern eben auch auf die politische Sozialisation. Wir beobachten so eine Entfremdung von der Demokratie, aber auch eine politische Frustration und eine ganz grundsätzliche Frustration.

Sie sagen: Die Frustration nimmt zu. Was frustriert so stark? 

Johannes Kiess: Dazu muss ich etwas ausholen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie über Politik in den Medien, in der Öffentlichkeit geredet wird. Es geht um Negativkampagnen gegen die Ampel, gegen die Grünen, gegen den Westen. Da wird behauptet, dass alles nicht mehr funktioniert. Das schafft eine gewisse Grundstimmung. Wenn wir jetzt immer wieder solche Desinformations-Kampagnen haben aus dem In- und Ausland, dann zerstört das auch das Vertrauen in Institutionen. Damit meine ich keine spezifische Partei, sondern ganz grundsätzlich das Vertrauen in die politischen Institutionen, Gerichte, Parlamente und so weiter. Damit wächst dann auch die Frustration über das politische System.

Was ist die Folge?

Das politische System wird als nicht mehr handlungsfähig erlebt. Dieses Gefühl überträgt sich dann auch auf die eigene Handlungsunfähigkeit. Junge Menschen haben das Gefühl, dass sie selbst keinen Einfluss haben auf Politik. Sie denken: 'Ich kann da ja eh nichts ändern mit meiner kleinen Stimme – am ehesten kann ich denen noch einen Denkzettel verpassen.'

Wenn Sie jetzt einen jungen Menschen vor sich hätten, der noch nicht voll sozialisiert ist in dem Sinne, wie Sie es beschrieben haben. Was würden Sie ihm sagen?

Johannes Kiess: Ich würde dazu auffordern oder versuchen zu überzeugen, sich im Kleinen politisch zu engagieren. Oder wenn nicht politisch, dann zumindest sozial, zum Beispiel im Jugendclub. Selbst etwas zu tun im Umweltverein, im Sportverein, wo auch immer, um dort mit anderen zusammen, die Lebenswelt, den Alltag sozusagen zu gestalten und zu erleben, dass man Dinge eben auch machen kann. Dass man nicht nur rumhängen und sauer sein muss, sondern dass man tatsächlich Dinge auch gestalten kann. Diese Erfahrung ist ganz, ganz elementar. Jungen Leuten zu sagen: 'Macht doch einfach mal.' Das reicht aber natürlich nicht aus. Dafür muss es natürlich aber auch Angebote geben. 

Jetzt besteht in Städten, Kreisen oder Ländern, in denen die AfD regiert, die Gefahr, dass eben gerade diese Gelder für Jugendprojekte oder für politische Bildung noch weiter gekürzt werden. Was bedeutet das? 

Johannes Kiess: Es gibt Kommunen, wo wir tatsächlich inzwischen die AfD in Ämtern haben. Dort werden politische Bildungsprojekte und überhaupt soziale Projekte noch mehr unter Druck geraten oder sie sind es schon. Das ist aber ein kontinuierlicher Prozess. Seit Jahren passiert es schon, dass bei solchen Angeboten tendenziell gespart wird. Trotzdem gibt es viele engagierte Menschen die sehr, sehr gute Arbeit machen und versuchen, in diesen schrumpfenden Räumen Angebote weiterhin am Laufen zu halten. Aber das ist extrem aufwendig und erfordert sehr viel Engagement. Wir reden hier auch über Regionen, in denen viele Leute in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten weggezogen sind. Dort gibt es eine gewisse Leere. Wenn dort jetzt die Finanzierungen gekappt werden, weil entweder der Finanzminister sagt 'Wir müssen Geld sparen' oder eben die AfD sagt 'Jetzt haben wir hier mal in der Kommune die Macht dazu, das auch abzuschalten, weil das ist genau das, was uns stört, dass junge Menschen demokratische Handlungsfähigkeit erleben', dann droht es natürlich, dass sich diese Prozesse noch verstärken. 

Wäre das dann eine Sackgasse?

Johannes Kiess: Naja, Gesellschaft bleibt ja trotzdem veränderlich. In Polen hatte die rechtspopulistische PiS-Regierung genau solche Sachen gemacht. Außerdem wurde versucht, den Rundfunk und Gerichte auf Linie zu bringen. Aber dort haben wir gesehen, dass die Zivilgesellschaft irgendwann doch Mittel und Wege gefunden hat, sich so zu mobilisieren, dass eben auch wieder ein Politikwechsel möglich war und die Wahlen durch demokratische Parteien gewonnen wurden. Das ist aber ein extrem aufwendiger, schwieriger, steiniger Weg. 

Was müsste jetzt auf bundespolitischer Ebene passieren, um Demokratie zu sichern?

Johannes Kiess: Der Bund ist gefordert, politische Bildungsprogramme und alles, was in Richtung Soziales und Jugend geht, auszubauen. Wir brauchen endlich Programme und auch ein Demokratiefördergesetz, um die Finanzierung auch politischer Bildungsarbeit auf bessere Füße zu stellen, vor allem auch langfristig. Aber es spielen natürlich auch viele andere Bereiche eine Rolle:

Die Politik muss zeigen, dass sie handlungsfähig ist. Johannes Kiess, Soziologe

Nach Wahl in Brandenburg: "Die Ampel ist quasi tot"

WDR 5 Mittagsecho 23.09.2024 13:37 Min. Verfügbar bis 23.09.2025 WDR 5


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Wie kann Politik zeigen, dass sie handlungsfähig ist?

Schaulustige vor der  teils eingestürzten Carolabrücke in Dresden

Die zum Teil eingestürzte Carolabrücke in Dresden

Handlungsfähigkeit heißt zum Beispiel, dass ich mich kümmere. Dass ich sage, das ändern wir, wenn Brücken einstürzen oder Züge nicht mehr fahren. Die Botschaft ist wichtig, um den Menschen zu zeigen, dass Politik sich um Probleme der Menschen im Land kümmert. Geld ist ja grundsätzlich da. Wir sind ein sehr, sehr reiches Land. Das muss eben nur auch in die Hand genommen werden und politischer Wille gezeigt werden, die Dinge auch anzugehen. Wenn die Leute das sehen und spüren, dann ist auch sehr schnell, glaube ich, wieder ein Stimmungsumschwung absehbar, nicht nur bei den jungen Leuten, sondern insgesamt in unserer Gesellschaft.

Das Interview führte Sabine Schmitt.

Über dieses Thema berichten wir im WDR am 23.09.2024 auch im Fernsehen und Radio, unter anderem im Morgenecho.

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