WDR-Interview: Ex-Außenminister Joschka Fischer für Aufrüstung

Stand: 13.10.2024, 16:42 Uhr

Im WDR-Interview äußert sich der ehemalige Außenminister Joschka Fischer von den Grünen zu den Krisenlagen im Nahen Osten und der Ukraine – und spricht sich öffentlich für eine Aufrüstung in Deutschland aus.

Aachen hat am Sonntag mit einem Festakt an die Befreiung der Stadt im Zweiten Weltkrieg durch US-Truppen vor 80 Jahren erinnert. Im Krönungssaal des Rathauses hat vor mehr als 500 Gästen der frühere Außenminister und heutige Strategieberater Joschka Fischer die Festrede gehalten. Wir haben mit ihm über die aktuelle Weltlage sprechen können.

Festakt Aachen WDR Studios NRW 13.10.2024 00:40 Min. Verfügbar bis 13.10.2026 WDR Online

WDR: Herr Fischer, wenn Sie sich jetzt mit diesem Jahrestag befassen: Berührt Sie das auch persönlich?

Joschka Fischer: Selbstverständlich, denn es geht hier um früheste Kindheitserinnerungen bei mir. Ich bin Jahrgang 1948. Das heißt, die Zeit ist mir noch gewärtig, auch wie Deutschland damals ausgesehen hat. Die Vertriebenen, die Rückkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, die Soldatengräber am Straßenrand, die Zerstörungen in den Städten, all das ist mir natürlich noch geläufig. Und insofern war das heute ein schon sehr besonderer Tag.

Aachen ist ja die erste westdeutsche Großstadt gewesen, die von den Amerikanern kämpfend besetzt wurde. Und es war ein unglaublicher, blutiger Irrsinn, der damals in Deutschland getobt hat und sehr vielen unschuldigen Menschen das Leben gekostet hat. 

Heute werden in Europa wieder Post-Faschisten, Rechtsnationale und Anti-Europäer gewählt. In Ost-Deutschland die dort teilweise als rechtsextremistisch eingestufte AfD. Hier kann man kaum noch sagen, es sei nur Protest. Also nichts gelernt?

Joschka Fischer: Ich denke, das ist die entscheidende Frage. Protest sehe ich da ehrlich gesagt nicht, sondern eine Rückkehr längst überwunden geglaubter politischer Kräfte. Für Deutschland wäre das schlimm, wenn die sich durchsetzen, wenn die auch nur in die Nähe der Macht kämen. 

Denn das würde bedeuten, dass wir die Erfolgsgeschichte, die die deutsche Demokratie ja ohne jeden Zweifel darstellt, die in der deutschen Einheit gipfelte, dass wir die Bedingungen dieser Erfolgsgeschichte infrage stellen. Das wäre ein Irrsinn ohnegleichen, wenn wir unsere eigenen nationalen Interessen zur Grundlage legen. 

Für uns sind Europa, die europäische Integration, für uns ist die Westbindung, wie sie Konrad Adenauer entwickelt und durchgesetzt hat, und für uns ist natürlich die Westintegration entscheidende Bedingung für den Erfolg unserer Demokratie und auch für den Erfolg der zweiten deutschen Einheit. 

Insofern dürfen wir diesen neonationalistischen Kräften keine Plattform bieten. Wir dürfen ihnen nicht die Möglichkeit geben, dass sie sich an der Macht beteiligen können. 

80 Jahre danach ist wieder Krieg in Europa und auch im Nahen Osten. Und Deutschland liefert Waffen. Wobei im Fall der Ukraine viele sagen: zum Überleben zu wenig, zum Sterben zu viel. Finden Sie den deutschen Kurs richtig?

Ich meine, dass eine gewisse Vorsicht angebracht ist im Umgang mit einer aggressiven Atommacht, das finde ich richtig und selbstverständlich. Aber auf der anderen Seite darf die Ukraine nicht verlieren. Putin darf sich nicht durchsetzen. Wenn er sich durchsetzt, wird er weitermachen. Nur weiter westlich, näher an unseren Grenzen. 

Ex-Außenminister Joschka Fischer im WDR-Interview mit Aktuelle-Stunde-Moderatorin Susanne Wieseler. | Bildquelle: WDR

Und er wird damit die Existenz der EU gefährden und bedrohen. Deutschland ist das stärkste, das wichtigste Land mit der größten Bevölkerung und viel hängt dabei von unserer Solidarität ab. An dieser Solidarität darf es keinen Zweifel geben. Ich würde mir hier ein energischeres Vorgehen unsererseits wünschen. 

Energischer in Sachen Unterstützung der Ukraine?

Ja, selbstverständlich. Es ist ja nicht so, dass die Ukraine nur für sich selbst kämpft. Sie kämpft ja für uns alle. 

Sie arbeiten an einem Buch mit dem geplanten Titel "Das große Chaos". Was beschreibt dieser Begriff?

Er beschreibt den Übergang von einer Weltordnung zu einer anderen. Die sich verabschiedende Weltordnung ist die amerikanische Weltordnung, von der wir alle sehr gut und sehr sicher gelebt haben. Was jetzt kommt, ist eine Rivalität großer Mächte unter Einschluss der Mittel des Krieges. Darauf müssen wir uns einstellen.

Wir haben den Krieg in Europa und im Nahen Osten. Wir werden eine Situation haben, wo wir den Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit verstärkt werden leisten müssen, wenn wir die Sicherheit, den Schutz von anderen auch in Zukunft haben wollen. Und unter diesem Gesichtspunkt werden wir uns neu positionieren müssen.

Wie muss das genau aussehen?

Naja, die NATO ist für uns unverzichtbar. Das Sicherheitsbündnis, dem wir angehören, spielt eine überragende Rolle. Die Schutzgarantie der USA, auch die nukleare Schutzgarantie, ebenso. Diese in Frage zu stellen, wäre höchst gefährlich. 

Ich hätte mir selbst nicht gedacht, dass ich mal für Aufrüstung plädiere. Ex-Außenminister Joschka Fischer über den gemeinsamen Schutz vor der russischen Bedrohung

Um diese Schutzgarantie auch in Zukunft zu behalten, werden wir mehr leisten müssen. Und das ist die Perspektive, die wir haben. Schauen Sie, ich hätte mir selbst nicht gedacht, dass ich mal für Aufrüstung plädiere, öffentlich. Und das tue ich hiermit, weil es nicht anders geht. Wir werden mit einem aggressiven Russland zu leben haben. Und dabei wird Abschreckung eine große Rolle spielen. 

Ich möchte nicht, dass wir eines Tages aufwachen und wegen mangelnder Luftverteidigung in einer schlimmen Situation sind. Die Ukraine hat das erlebt. All das zwingt uns zu einer Reorientierung, nicht einer grundsätzlichen Neuorientierung. Und Deutschland ist ein starkes Land. Wir sind nach wie vor die drittgrößte Industrienation global. Das gerät leicht in Vergessenheit. Aber trotz aller Schwierigkeiten, die wir gegenwärtig ökonomisch haben, sind wir ein starkes Land.

Hinweis der Redaktion: Mehrere Formulierungen dieses Gesprächs haben wir für eine bessere Lesbarkeit minimal abgeändert, allerdings ohne dabei den Inhalt zu verfremden.

Das Interview sendet der WDR am 13. Oktober 2024 in der Aktuellen Stunde.