Im Jahr 2024 hat es in Deutschland fast 5.000 Straftaten gegen Politikerinnen und Politiker gegeben - knapp 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Das geht aus einer vorläufigen Auswertung des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Martina Renner hervor, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Wie können wir diese Entwicklung stoppen und zu einem zivilen Diskurs zurückkehren? Fragen an den Sozialpsychologen Andreas Zick, der in Bielefeld das Zentrum für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung leitet.
WDR: Laut Bundesinnenministerium haben Angriffe auf Politikerinnen und Politiker im vergangenen Jahr erneut stark zugenommen. Überrascht Sie das?
Andreas Zick: Nein, das überrascht mich nicht, da diese Diskussion seit sehr vielen Jahren läuft. Wir haben uns 2017 zum ersten Mal intensiver mit diesem Phänomen beschäftigt, und das Thema Gewalt ist ein Dauerbrenner. Das betrifft ja nicht nur die Politik, sondern auch Rettungsdienste, Polizeien und den öffentlichen Dienst.
WDR: Wie erklären Sie sich den Anstieg?
Zick: Wir reden sehr wenig über politisch motivierte Gewalt und sind da sehr vorsichtig. Wenn es einen Angriff auf Politiker gibt, wird das oft als Einzeltat eines so genannten Wutbürgers gesehen. Unser Daten zeigen aber, dass im vergangenen Jahr die Akzeptanz und Billigung von Gewalt in der Mitte um 13 Prozent gestiegen ist. Das weist darauf hin, dass Gewalt zur Durchsetzung von politischen Interessen zugenommen hat. Da sind uns Normen und Wertvorstellungen weggebrochen. Die Gesellschaft hat sich immer weiter polarisiert, es wird angespannter und emotionaler. Diese Voraussetzungen braucht der Populismus und Extremismus, um Menschen zu motivieren, andere anzugreifen.
WDR: Gewalt ist in dieser Statistik ein sehr weit gefasster Begriff: Dazu zählen Schmierereien an Parteibüros genauso wie Online-Beleidigungen und Körperverletzungen. Wie wichtig ist es hier, zwischen den Delikten zu unterscheiden?
Zick: Man muss deutlich differenzieren. Es gibt ideologisch hoch emotionalisierte Gewalt, es gibt spontane Taten, etwa auf Demonstrationen, und es gibt Formen der psychischen Gewalt. Zum Beispiel, wenn man Hassbotschaften sendet, Politiker verfolgt, ihnen Mails schickt mit Sätzen wie: "Wir wissen, wo du wohnst." Das hat einen verzögerten Effekt: Wir sehen Aggression und Wut, die verzögert als Gewalt und als Freiheitseinschränkung auftaucht. Diese differenzierte Betrachtung gibt es im Bereich der Aggressions- und Gewaltprävention, aber wir denken sie noch nicht in einem politischen Raum. Die Gesellschaft ist gespalten, wir kriegen sie nicht mehr zusammen, und das macht es der Gewalt ziemlich einfach.
WDR: Vor knapp sechs Jahren ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremen erschossen worden. Damals war die Rede von einer Zäsur, aber passiert ist danach wenig. Warum ist es so schwierig, Gewalt gegen Politiker zu verhindern?
Zick: Politikerinnen und Politiker gehen davon aus, dass sie überall ungeschützt auftreten können, man hängt an den alten Vorstellungen, dass sich Politik überall frei bewegen kann. Aber das ist heute so nicht mehr möglich. Das müsste man viel mehr thematisieren, auch von Seiten der Politik. Aber das ist mühselig und oft mit Imageschäden verbunden. Es gibt zwar Meldeportale und vereinzelte Versuche, aber es fehlt eine Gesamtstrategie zur Verhinderung politischer Gewalt.
WDR: Wie könnte die Strategie aussehen? Was ist dafür nötig?
Zick: Wir brauchen eine Diskussion darüber, wo Hasssprache und Hassbilder in Gewalt umschlagen: Wie funktioniert das? Wir haben extrem viele polarisierte Debatten, selbst im Bundestag. Das geht von der aktuellen Diskussion um die Migration bis zur Wärmepumpe, die zum Symbol eines Angriffs auf Bürgerinnen und Bürger geworden ist, worauf sich manche im Widerstand gegen "die da oben" wähnen. Hier sickern populistische und extremistische Bilder in die Debatte, und darüber muss man reden. Es braucht eine Mäßigung. Wir leben in Zeiten, in denen die digitalen Medien hochgradig emotionalisieren und auch in der Mitte radikalisieren. Und die Mitte tut sich sehr schwer damit, sich die Frage zu stellen: Wie radikal sind wir eigentlich?
WDR: Der Anstieg von Gewalttaten gegen Politiker in den vergangenen Jahren fällt in dieselbe Zeit wie der Aufstieg der AfD. Ist das Zufall?
Zick: Nein. Die AfD polarisiert, sie erzeugt Unruhe, sie geht in die Konfrontation. Diese Partei möchte Konflikte schüren und sucht die Provokation. Und in der Gesellschaft gibt es eben Gruppen, die sich auf diese Provokationen einlassen, man arbeitet sich daran ab. Beunruhigend an diesem neuen Populismus finde ich, dass sich diese Partei selbst als Widerstandsgruppe inszeniert. Das erzeugt neue Formen der Polarisierung und neue Konfliktkonstellationen.
WDR: Man muss da ja noch nicht einmal auf die AfD schauen. Gestern beim CDU-Parteitag hat Markus Söder Witze über die Körpergröße von Olaf Scholz gemacht, was von Friedrich Merz lachend quittiert wurde. Verroht der politische Diskurs von oben oder von unten her?
Zick: Man findet alle Facetten der Menschenfeindlichkeit in dem Diskurs, ganz oft sind das auch sexistische Darstellungen von Politikerinnen. Dafür gibt es eine gewisse Akzeptanz, und das Parlament ist hier ein Spiegelbild der Gesellschaft. Studien zeigen: Die Akzeptanz von Vorurteilen und Stereotypen über Gruppen steigt an, und das merkt man auch im Parlament. Allerdings ist das Parlament gleichzeitig auch der Ort, an dem man erwarten würde, dass man sich dort mit solchen Themen auseinandersetzt. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat einmal gesagt, es müsse ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Den braucht es jetzt auch in Fragen der Mäßigung. Wenn jemand anhand von seiner Körpergröße dargestellt wird, wird er reduziert und zum Teil dehumanisiert. Das sind Bedingungen dafür, dass sich Wut dann auch in Gewalt manifestiert.
WDR: Wie sieht der ideale politische Diskurs in einer Gesellschaft aus? Wie geht man mit den Menschen um, die den Diskurs nicht führen, sondern im Grunde nur vergiften wollen?
Zick: Dass man mit Extremisten einfach so reden kann, ist naiv, das funktioniert nicht. Ich erhalte relativ viele Hassmails, und bei manchen schreibe ich dann zurück: "Ich befasse mich damit, wenn Sie die Mail noch einmal schicken und dabei die Aggression und Gewaltandrohung weglassen." Der Dialog muss unter Bedingungen stattfinden, und dabei ist es wichtig, dass es eine klare Distanzierung von Gewalt gibt und dass menschenfeindliche Vorurteile im Raum nichts zu suchen haben.
Unsere Quellen
- Nachrichtenagentur dpa
- Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND)
Über dieses Thema berichtet der WDR am 04.02.2025 auch im Fernsehen, in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.