Magdeburg: Politische Aufarbeitung beginnt
Aktuelle Stunde . 23.12.2024. 42:31 Min.. UT. Verfügbar bis 23.12.2026. WDR. Von Alexa Schulz.
Was wir bisher über den Anschlag in Magdeburg wissen
Stand: 24.12.2024, 08:51 Uhr
Bei dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am Freitagabend sind fünf Menschen getötet worden. Es gibt mehr als 200 Verletzte. Was bislang bekannt ist.
Der Weihnachtsmarkt in der Magdeburger Innenstadt bleibt geschlossen. Auf der Website des Marktes steht in weißer Schrift vor schwarzem Hintergrund: "Wir sind in tiefer Trauer und mit unseren Herzen und Gedanken bei den Opfern, Angehörigen und Helfern." Am Freitag hatte sich auf dem Alten Markt gegen 19 Uhr ein Anschlag ereignet. Mit hoher Geschwindigkeit hatte der Täter ein Auto mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt gefahren, mitten in eine Menschenmenge hinein.
Durch den Anschlag kam ein neunjähriger Junge ums Leben sowie vier Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren. Die Zahl der Verletzten liegt laut Staatsanwaltschaft bei bis zu 235 - darunter sind 41 Schwer- und Schwerstverletzte. Der Täter sitzt in Untersuchungshaft.
- Was ist passiert?
- War der Weihnachtsmarkt ausreichend gegen Anschläge geschützt?
- Was ist über den Täter bekannt?
- Wie hat sich der Täter in Sozialen Medien geäußert?
- Was wussten die Behörden über den Täter?
- Welche politischen Forderungen werden jetzt laut?
- Wie ist die Stimmung am Tag danach in Magdeburg?
- Gibt es Konsequenzen für Märkte in NRW?
Was ist passiert?
Nach den bisherigen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft fuhr der Täter am frühen Freitagabend mit einem schweren Mietwagen auf dem Weihnachtsmarkt ungebremst in eine Menschengruppe. Vom ersten Notruf, der um 19.02 Uhr bei der Polizei einging, habe es nur drei Minuten gedauert, bis der Mann festgenommen wurde.
Insgesamt soll das Auto laut Ermittlern mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt gefahren sein, bevor der Fahrer vor wartenden Autos an einer Ampel stoppen musste. Die Fahrt über den Markt hat nach Einschätzung der Polizei drei Minuten gedauert. Bei dem Tatfahrzeug soll es sich um einen Leihwagen mit Münchner Kennzeichen gehandelt haben. Der Todesfahrer leistete bei seiner Verhaftung keinen Widerstand.
Rettungskräfte versorgen Verletzte auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt
Am Samstag wurde der Mann noch vernommen. Am frühen Sonntagmorgen wurde Haftbefehl gegen den Todesfahrer erlassen, er kam in U-Haft. Ihm wird fünffacher Mord vorgeworfen, außerdem 200 Mal versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
Im November und Dezember soll sich der Täter nach Behördeninformationen mehrmals in Magdeburg aufgehalten haben. Das berichtet der "Spiegel". Er habe sich im Maritim-Hotel in der Innenstadt eingemietet und dort möglicherweise den Anschlag vorbereitet. Während der Todesfahrt könnte er unter Drogen gestanden haben - ein vorläufiger Schnelltest war laut "Spiegel" positiv ausgefallen.
War der Weihnachtsmarkt ausreichend gegen Anschläge geschützt?
Nach Angaben der Stadt Magdeburg nutzte der Täter Flucht- und Rettungswege, um den für den Verkehr gesperrten Weihnachtsmarkt zu erreichen. Das Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt sei nach dem Anschlag von Solingen noch einmal verschärft worden, hieß es.
Der Rettungsweg war nach Angaben der Stadt aber nicht durch Sperren oder Poller geschützt. Notarzt und Feuerwehr sollten über diesen Weg bei Unfällen oder anderen Einsätzen auf den Platz gelangen können, erklärte Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt Magdeburg. Dort seien aber mobile Einsatzkräfte stationiert gewesen. Das Konzept habe sich "über lange Jahre bewährt".
Vor Ort habe sich auch ein Polizei-Bulli befunden, der üblicherweise solche Wege versperrt, sagte Krug. Warum das zur Zeit des Anschlags nicht der Fall war, ist unklar.
Polizisten am Sonntagmorgen vor dem Magdeburger Weihnachtsmarkt
Ein Sachverständiger für Zufahrtsschutz kritisierte die Genehmigungsbehörden und Veranstalter des Weihnachtsmarktes in Magdeburg derweil scharf. Sie hätten die ISO-Norm für die Absicherung des öffentlichen Platzes nicht eingehalten. "Wenn ein ordentliches Zufahrtsschutzkonzept nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik installiert gewesen wäre, dann hätte der Anschlag so nicht stattfinden können", sagte Christian Schneider im ZDF.
Was ist über den Täter bekannt?
Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer ordnet den Täter Taleb A. dem rechten Spektrum zu. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte Kramer: Auch wenn der Täter psychisch krank sein sollte, zeigten seine Beiträge im Internet, dass er sich immer mehr in Richtung des rechten Extremismus radikalisiert hat. Es müsse weiter aufgeklärt werden, warum er den Anschlag in Magdeburg letztendlich begangen hat. Montag wurde bekannt, dass der Generalbundesanwalt es ablehnt, die Ermittlungen zu übernehmen. Das bedeutet offenbar, dass er bisher kein politisches Motiv für den Anschlag sieht. Gleichzeitig verdichten sich Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Täters.
Der Täter soll 50 Jahre alt und Arzt sein. Er stammt aus Saudi-Arabien und lebt seit 2006 in Deutschland. Vor acht Jahren war ihm als politisch Verfolgter Asyl in Deutschland gewährt worden. Zuletzt arbeitete er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Bernburg südlich von Magdeburg. Er soll die Tat nach Stand der Ermittlungen alleine begangen haben.
Nach Recherchen von WDR und NDR hatte der Mann sich Ende der neunziger Jahre vom Islam losgesagt. Er gilt als prominente Figur in der saudischen Exil-Community und Ansprechpartner für Asylsuchende aus Saudi-Arabien, vor allem für Frauen. Auf seiner Website steht jedoch inzwischen in englischer und arabischer Sprache: "Mein Rat: Bittet nicht um Asyl in Deutschland."
Er hatte in mehreren Medien berichtet, Asylsuchende würden in Deutschland verfolgt und bedroht. Der 50-Jährige hatte zwar in Interviews angegeben, der AfD nahezustehen. Die Partei betonte aber am Samstag, dass er niemals Mitglied der AfD war.
Laut Terrorismus-Experte Hans-Jakob Schindler passt der Täter nicht in eine der großen Extremismus-Kategorien - "islamistisch, links, rechts". Vielmehr habe er sich sein eigenes Weltbild aus verschiedenen ideologischen Narrativen zusammengebaut. "Hier zeigt sich, dass auch diese seltsamen Weltbilder durchaus tödliche Gefahren beinhalten können", sagte Schindler am Sonntag dem WDR.
Wie hat sich der Täter in Sozialen Medien geäußert?
In Medien-Interviews und auch in den Sozialen Medien fiel er als Islam-Kritiker auf. Seinen Äußerungen zufolge befürchtete er eine angebliche Islamisierung Deutschlands. Laut einem Profil auf der Plattform "X" (früher Twitter), das dem Täter gehören soll, findet sich unter anderem der Satz "Deutschland will Europa islamisieren". Den Aussagen zufolge soll sich der Mann von den deutschen Behörden verfolgt gefühlt haben.
Der Todesfahrer habe sich zum Tatmotiv geäußert, sagte Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens am Samstag. "Ich kann zur Motivation des Täters so viel sagen: Nach gegenwärtigem Stand sieht es so aus, dass der Hintergrund der Tat (...) Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudi-arabischen Flüchtlingen in Deutschland gewesen sein könnte." Ob diese Angaben stimmen, müssten nun die weiteren Ermittlungen ergeben.
Was wussten die Behörden über den Täter?
Die Behörden geraten wegen des Anschlags in Magdeburg immer mehr unter Druck. Es soll verschiedene Warnungen gegeben haben, deshalb hatte die Polizei vorher mehrfach Kontakt zum Täter. Sie hat sogenannte Gefährderansprachen durchgeführt - die zeigen sollen, dass jemand als potentieller Straftäter im Fokus ist. Von den Anschlagsplänen haben die Behörden offenbar trotzdem nichts geahnt.
Die Radikalisierung des Täters sei den Behörden durchaus bekannt gewesen, erklärte am Samstag Martin Kaul vom WDR Investigativ-Team. Aufgefallen seien zum Beispiel Äußerungen auf Social Media, in denen er erklärte, "Rache" üben zu wollen. WDR-Recherchen zufolge seien diese Hinweise an Polizei und Sicherheitsbehörden gegangen. Aber: "Es wurde nicht in der höheren Preisklasse bearbeitet, nach allem, was wir jetzt wissen."
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte nach eigenen Angaben einen Hinweis zu dem Täter erhalten und an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) hatte im November 2023 einen Hinweis aus Saudi-Arabien zu dem Mann bekommen. Diese hätten sich aber nur auf öffentliche Hetz-Posts des Mannes auf "X" bezogen, hieß es. Alleine dort hatte er knapp 50.000 Follower. Aus saudischen Sicherheitskreisen hieß es, das Königreich habe seine Auslieferung beantragt, darauf habe Deutschland aber nicht reagiert.
Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin, bei Feuerwehrleuten in Magdeburg
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat zusätzliche Ermittlungen angekündigt, um herauszufinden, welche Behörden zuvor Hinweise auf den Täter hatten. Das sagte sie der Bild am Sonntag. Nach ARD-Recherchen soll der Mann bereits vor mehr als zehn Jahren auffällig gewesen sein. Er war wegen der Androhung von Straftaten und zuletzt wegen des Missbrauchs von Notrufen verurteilt worden. Am Tag vor dem Magdeburger Anschlag sollte über einen Einspruch von A. dagegen verhandelt werden, bestätigte die Staatsanwaltschaft. Er sei aber nicht erschienen und der Einspruch verworfen worden.
Offenbar war der Täter in der Vergangenheit außerdem mehrmals durch juristische Auseinandersetzungen aufgefallen. Laut Staatsanwaltschaft Köln hatte er vor einigen Jahren vergeblich strafrechtliche Ermittlungen gegen eine Flüchtlingshelferin verlangt, die im Vorstand des Vereins Säkulare Flüchtlingshilfe sitzt. Der Verein setzt sich für religiös Verfolgte und religionsfreie Flüchtlinge ein. Die Säkulare Flüchtlingshilfe erklärte, der Mann habe haltlose Anschuldigungen über den Verein und ehemalige Vorstandsmitglieder verbreitet.
Welche politischen Forderungen werden jetzt laut?
Jochen Kopelke, GdP-Vorsitzender
Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), kritisierte angesichts des Anschlags den fehlenden Behördenaustausch. "Der Datenschutz verhindert, dass viel mehr Informationen fließen. Das ist ein Kernproblem in der deutschen föderalen Sicherheitsarchitektur", sagte er im Gespräch bei "phoenix".
Bundesinnenministerin Faeser forderte im "Spiegel" ausstehende Gesetzentwürfe zur inneren Sicherheit dringend zu beschließen. Diese seien in der mittlerweile zerbrochenen Ampel-Koalition vor allem von der FDP blockiert worden. Die SPD-Politikerin nannte etwa das neue Bundespolizeigesetz, das die Bundespolizei stärken solle, oder die Einführung der biometrischen Überwachung, die die Union im Bundesrat aufgehalten habe.
Armin Laschet, CDU-Bundestagsabgeordneter
Für die CDU forderte der Bundestagsabgeordnete und frühere NRW-Ministerpräsident Armin Laschet die Stärkung von Nachrichtendiensten. Nach seinen Angaben sind fast allen großen Terroranschlägen Hinweise ausländischer Geheimdienste vorausgegangen. "Wir müssen unsere Dienste stärken, damit wir selbst stärker im Anti-Terrorkampf werden", sagte Laschet zu "tablemedia".
Die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel schrieb am Montag auf der Plattform X: "Die Diskussion über neue Sicherheitsgesetze darf nicht davon ablenken, dass Magdeburg ohne unkontrollierte Zuwanderung nicht möglich gewesen wäre." Sie fordert "eine restriktive Migrationspolitik und konsequente Abschiebungen".
Wie geht es den Menschen in Magdeburg?
Nach dem Anschlag in Magdeburg haben am Montag tausende Menschen der Opfer gedacht. Zeitgleich fand eine AfD-Kundgebung auf dem Domplatz statt. Beide Veranstaltungen zählten jeweils 3.000 bis 4.000 Teilnehmer. Bei der AfD-Kundgebung waren "Abschieben!"-Rufe zu hören, während sich eine Menschenkette gegen die politische Vereinnahmung durch Rechtsextreme bildete.
Einen Tag zuvor, am Sonntag, war in der Stadt wird mit einer Mahnwache an die Opfer des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt erinnert worden. Vor der Johanniskirche in der Nähe des Tatorts befindet sich ein zentraler Gedenkort. Hunderte Menschen legten dort Blumen ab und es brennen viele Kerzen.
Am Samstag gab es einen ökumenischen Gottesdienst im Magdeburger Dom mit Betroffenen, Angehörigen, Einsatzkräfte und Politikern. Auch Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzler Scholz und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff nahmen teil. In das Gedenken mischten sich aber auch schon Samstag rechtsradikale und rechtsextreme Parolen. Etwa 1.000 Teilnehmer versammelten sich am Samstag. Zu sehen waren dort unter anderem ein Transparent mit dem Wort "Remigration" sowie sogenannte Heimat-Fahnen. Die Polizei löste die Versammlung auf.
Demonstranten in Magdeburg halten ein Transparent mit der Aufschrift "Remigration" hoch.
Als symbolisches Zeichen der Hoffnung soll Heiligabend auf dem Domplatz die Magdeburger Lichterwelt wieder eingeschaltet werden. Die Lichterwelt besteht aus einer Vielzahl großer Lichtskulpturen, nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt war sie ausgeschaltet worden. Stadtverwaltung und Magdeburger Weihnachtsmarkt-Gesellschaft hätten sich darauf verständigt, sie nun wieder leuchten zu lassen, teilte die Stadt mit.
Der Magdeburger Weihnachtsmarkt bleibt unterdessen geschlossen und wird ab dem 27. Dezember abgebaut. Der Weihnachtsbaum und die Fassaden leuchten auch wieder.
Alle aktuellen Entwicklungen zur Lage in Magdeburg gibt es auch im MDR-Ticker:
Gibt es Konsequenzen für Märkte in NRW?
Innenminister Herbert Reul äußerte sich am Samstag zur Sicherheitslage in NRW: "Die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden bleiben höchst wachsam. Unsere Sicherheitskonzepte werden nötigenfalls angepasst, derzeit gibt es aber keine Hinweise auf eine konkrete Gefahr." Eine zusätzliche Verstärkung auf den Weihnachtsmärkten sei nicht NRW-weit geplant.
Einzelne Kommunen haben aber dennoch die Sicherheit auf Weihnachtsmärkten verstärkt. So auch in Duisburg: Dort wurde der Einsatz von mehr Polizisten als Streifen auf den Weihnachtsmärkten angeordnet. Die Maßnahme sei nach den Geschehnissen in Magdeburg rein präventiv und beruhe nicht auf besonderen Erkenntnissen, sagte ein Polizeisprecher.
Quellen:
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP, RTR, kna
- MDR Sachsen-Anhalt
- MDR-Reporter vor Ort
- Polizei und Staatsanwaltschaft Magdeburg
- X-Posts von NRW-Ministerpäsident Wüst und NRW-Innenminister Reul
- X-Posts von mutmaßlichem Account von Taleb A.
- WDR Investigativ
Hinweis der Redaktion: Wir schreiben von Taleb A. als Täter, da wir dies durch den Pressekodex gedeckt sehen. Wir beziehen uns dabei auf Ziffer 13.1: "Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn sie ein Geständnis abgelegt hat und zudem Beweise gegen sie vorliegen oder wenn sie die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat."