"Möchte die Witwe angesprochen werden..." von Saša Stanišić

Stand: 03.06.2024, 07:00 Uhr

Knapp fünf Jahre nach seinem buchpreisprämierten Werk "Herkunft" und drei Jahre nach seinem fulminanten Kinderbuch "Hey, hey, hey, Taxi!" erscheint wieder etwas Neues aus der Feder von Saša Stanišić. Der 1978 geborene Autor, der aus Bosnien stammt, legt jetzt einen Erzählungsband vor. Eine Rezension von Niels Beintker.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Luchterhand, 2024.
256 Seiten, 24 Euro.

"Möchte die Witwe angesprochen werden..." von Saša Stanišić Lesestoff – neue Bücher 03.06.2024 05:34 Min. Verfügbar bis 03.06.2025 WDR Online Von Niels Beintker

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Sie hängen in den Weinbergen ab, werfen dann und wann Steine in die Luft: Fatih, Piero, Nico und Saša, vier Jungs um die 16, mitten in der Pubertät und kurz vor den großen Ferien. Fatih hat eine bestechende Idee – einen Proberaum für das Leben.

Jeder, der will und 130 Mark zahlt, darf zehn Minuten lang die eigene Zukunft testen. Und überlegen: Will ich das? Oder will ich etwas ganz anderes? Dieses allzu menschliche Verlangen wird zum Leitmotiv im neuen durch und durch spielerischen Prosaband von Saša Stanišić.

O-Ton Saša Stanišić:
"Literatur ist ja so ein Möglichkeiten-Raum. Einmal haben wir diese Sci-Fi-Idee vom Proberaum. Und zweitens haben wir die literarische Umsetzungskraft dieser Biographien, die sich dann verändern. Und ich lasse meinen Figuren immer diese zweite Chance gewähren – dass sie noch einmal ein Leben leben können oder zehn Minuten von diesem Leben leben können –, die sie sonst nicht hätten.“

Saša Stanišić nennt sein Buch mit dem Titel "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne": eine Chimäre. Es ist kein Roman, es ist auch kein klassischer Erzählungsband. Vielmehr beständiges Dazwischen, furios, voller Witz, oft in kurzen Sätzen, rhythmisch und mit knappen Dialogen: Geschichten von unterschiedlichen Menschen aus unserer Zeit, auf magische Weise miteinander verbunden – nicht nur, weil alle Figuren den Proberaum für das Leben betreten.

Ein Saša Stanišić ist auch dabei. Er war angeblich als Jugendlicher auf Helgoland und wird dreißig Jahre später dort beschuldigt, das alte Wirtshausschild aus dem "Inselkrug" gestohlen zu haben. Hochironische Autofiktion, voller Brechungen.

O-Ton Saša Stanišić:
"Wir haben da einen dahin gereisten Jugendlichen, der aber in Wirklichkeit nicht dahin gereist ist. Er hat nur seinen Freunden erzählt, dass er dahin reist, weil er sich geschämt hat oder Geltungsbedürfnis hatte, weil er auch einmal etwas erleben wollte. Dann haben wir den erwachsenen Saša Stanišić, den Schriftsteller, der sich wohl eine Geschichte durchliest, in der er selber Protagonist ist, die er aber nicht gut finden. Die Bilder gefallen ihm nicht, die Sprache gefällt ihm nicht. Und dann gibt es die eigentliche Geschichte, die erzählt wird, dass ein Kneipenschild geklaut worden ist. Dieses Kneipenschild hat eine große Wichtigkeit für die Wirtin auf dieser Insel, auf Helgoland."

Immer wieder kommen die Geschichten von Saša Stanišić ungestüm daher, mancher erzählerische Kniff ist rotzfrech. Unter der Oberfläche aber liegen Melancholie und tiefer Ernst. Eben: der großen Frage folgend, welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes leben?

Einige der Figuren erfahren Ausgrenzung, aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund ihrer Sprache. Der Helgoland-Fahrer Saša Stanišić etwa begegnet – in der literarischen Imagination – Heinrich Heine. Lebens- und Zeitgeschichten verbinden einander: die Ablehnung, die Angst.

"Fatihs Anproberaum, das wäre es jetzt. Die Gegenwart war klar. Wie Heine hätte ich sie oft am liebsten verlassen. Wäre lieber woanders gewesen. Woanders und vor allem wer anders. Wenn die Albträume der Abschiebung uns heimsuchten. Wenn zu Hause gestritten und gelitten und das Geld am Ende des Monats knapp wurde. Oder wenn die Bullen uns mal wieder anhielten und: 'Leert die Taschen, Jungs, alles.'"

Ein paar Sätze – und abgrundtiefe Traurigkeit. Und doch behaupten sich die Figuren von Saša Stanišić. Auch die beiden Frauen, die jeweils eine Art Zentrum in den vielen Prosatexten bilden: die Hamburger Witwe Gisel – die unter anderem über die entsprechende Platzierung der Gießkanne am Grab ihres Mannes räsoniert.

Und Dilek, in einer Geschichte in Heidelberg zu Hause, in einer anderen – einer "Traumnovelle" – Putzfrau in Wien, angestellt bei einer reichen wie unverschämten Wienerin. Dilek merkt bei ihrer Arbeit, dass die Zeit plötzlich stehen bleibt. Oder vielleicht auch ihr Herz, man weiß es nicht. Sie erlebt einen utopischen Moment der Freiheit. Und emanzipiert sich.

O-Ton Saša Stanišić:
"Bei ihr gelingt es mir, glaube ich, am intensivsten, diesen Kampf gegen die Konventionen – die Konvention, mit ihrem Mann zurück in die Türkei zu gehen, die Konvention, sich um die Kinder gekümmert zu haben und jetzt gar kein eigenes Leben gehabt zu haben, all diese Dinge zu verlassen und für sich einen kleinen Weg zu finden, wie klein der auch ist – aber es ist ein Weg in die Freiheit."

Ja, ein Weg in die Freiheit. Das ist der Kern der nicht nur in emotionaler Hinsicht vielschichtigen Prosa von Saša Stanišić. Man verschwindet lustvoll in diesem erzählerischen Labyrinth, all denen folgend, die von einem anderen Leben träumen.