Nie hatte Teun de Groot (76) während der 20 Verhandlungstage die Augen von Richter Gernd Nohl abgewandt. Doch nun, beim Urteil, ist es soweit. Es ist der Moment, als der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer auf den 3. September 1944 zu sprechen kommt. Es ist der Tag, als ihm sein gleichnamiger Vater genommen wurde. Der weißhaarige Mann wirkt plötzlich starr. Er reibt sich die Augen und blickt auf den Tisch, an dem er als Nebenkläger sitzt. "Teun de Groot war ein angesehener Fahrradhändler", sagt Richter Nohl. "Er entschuldigte sich gegenüber den SS-Männern, dass er morgens um 7.30 Uhr noch nicht angezogen war. Da zog der Angeklagte seine Pistole und schoss ihn nieder." Im Gerichtssaal ist es trotz vieler Zuschauer ganz still.
Wegen insgesamt dreier Morde verurteilte das Gericht Heinrich Boere am Dienstag (23.03.10) zu lebenslanger Haft. Es ist 11.07 Uhr, als das Urteil komplett verkündet ist. Teun de Groot wirkt erleichtert. Er nickt zustimmend mit dem Kopf und lächelt ein wenig. Der 88-jährige Angeklagte zeigt im Gegensatz zu den beiden anwesenden Kindern der Opfer in Saal A 0.020 kaum Regung. Er blickt auch nach dem Urteilsspruch wie abwesend auf den Tisch der Anklagebank.
Richter: "Was ist mit Reue und Sühne?"
Es ist genau dieses teilnahmslose Verhalten des früheren SS-Mannes der Todesschwadron "Feldmeijer", das Richter Nohl in seiner Urteilsbegründung bedauert. "Kurz vor dem Ableben möchte man doch eigentlich reinen Tisch machen. Aber das ist hier nicht geschehen." Der Angeklagte, gebürtiger Niederländer, der heute staatenlos ist, hatte nur einmal das Wort ergriffen - als er die Morde eingestand. Sonst hatte er geschwiegen. Richter Nohl: "Wie ist es, einen Angriffskrieg gegen sein eigenes Land zu unterstützen? Was ist mit Reue, Sühne, Entschuldigung oder Schuldbewusstsein? Oder ist ihm sein Fernseher und ein pünktliches Mittagessen heute wichtiger? All diese Fragen hatten wir. Der Angeklagte aber hat nichts gesagt."
Argwöhnische niederländische Medien
Viele Medien aus den Niederlanden hatten den Prozess intensiv begleitet. So intensiv, dass sogar im Gericht angefragt wurde, was die Väter der Richter im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Denn Heinrich Boere hatte als SS-Mann niederländische Zivilisten in den Niederlanden erschossen. Die SS richtete damals auch schon Menschen hin, denen lediglich nachgesagt werden konnte, dass sie mit dem Widerstand sympathisierten. Sie mussten als Vergeltungsaktion für Taten von Widerständlern sterben. Insgesamt kamen bei der Aktion "Silbertanne" 54 Zivilisten ums Leben. "Es war damals eine andere Zeit. Aber trotzdem bleiben es Morde durch Mörder", sagt Richter Nohl. Boere war für die drei Morde bereits durch ein holländisches Sondergericht verurteilt worden. Die Strafe hatte er aber nie verbüßt, weil er nach Deutschland fliehen konnte.
Richter: "Haftvollstreckung unwahrscheinlich"
Mit dem Urteil wird der Fall Boere nicht zu den Akten gelegt werden. Verteidiger Gordon Christiansen kündigte an, in Revision vor den Bundesgerichtshof (BGH) zu ziehen. Und ob der Mörder Boere selbst bei Misserfolg jemals in Haft kommt, ist äußerst unwahrscheinlich. "Eine Vollstreckung ist äußerst fraglich. Da sind wir nicht blauäugig. Wird Revision eingelegt, kann sich das Verfahren noch Jahre hinziehen", sagte Nohl.
Es kann vor allem deshalb noch lange dauern, bis das Urteil rechtskräftig ist, weil eine neue Norm der EU-Grundrechtscharta unter Verteidigung und Gericht äußerst umstritten war. Dabei geht es darum, ob ein Täter zweimal wegen derselben Tat verurteilt werden kann. Die alte Norm hatte besagt, dass dies möglich ist, wenn das alte Urteil nie vollstreckt wurde. Die neue Norm aber hat diese Voraussetzung nicht. Weil ein Fall nach der neuen Norm noch nie entschieden wurde, wird der BGH den Europäischen Gerichtshof um eine Entscheidung bitten müssen - und das kann dauern.
Kinder der Opfer mit Urteil zufrieden
Während vor dem Landgericht Bürger gegen Boere demonstrieren, zeigen sich im Gericht die anwesenden Kinder der Opfer mit dem Urteil zufrieden. Dolf Bicknese, Sohn des ermordeten Apothekers Fritz Hubert Bicknese, sagt: "Wir hatten immer Hoffnung. Jetzt gibt es nach so langer Zeit Gerechtigkeit." Und Teun de Groot: "Das ist ein befriedigendes Resultat." Auch Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, der viele Nazi-Fälle bearbeitet, ist zufrieden: "Das Urteil wird uns bei der Verfolgung anderer Täter helfen, weil jetzt klar ist, wie die Voraussetzungen für Mord auszulegen sind. Außerdem erhöht das den psychischen Druck auf die Täter."
Nachtrag: Das Urteil gegen den Nazi-Verbrecher Heinrich Boere ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe habe die Revision des 89-Jährigen als unbegründet verworfen, teilte das Aachener Landgericht am Montag (20.12.10) mit.