Ulrich Maaß ist Leiter der NRW-Zentralstelle für Nazi-Massenverbrechen in Dortmund. Mit Unterbrechungen sucht er seit 1979 nach Kriegsverbrechern aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch über 65 Jahre nach Kriegsende tauchen immer neue Beweise und bislang geheim gehaltene oder vergessene Akten auf. Trotzdem ist seine Arbeit als Staatsanwalt ein Wettlauf mit der Zeit: Denn die mutmaßlichen Täter sind mittlerweile sehr alt geworden. Genau wie der Angeklagte Heinrich Boere im aktuellen Prozess in Aachen.
WDR.de: Boere ist jetzt 88 Jahre alt. Ist der Prozess gegen ihn eines der letzten Verfahren gegen NS-Kriegsverbrecher?
Ulrich Maaß: Der letzte Prozess wird es nicht sein. Es gibt vier Verfahren, die zurzeit laufen oder vorbereitet werden. Seit Jahren hatten wir nicht mehr so viel, aber jetzt häuft es sich wieder. In den vergangenen Jahren sind viele Archive geöffnet worden, gerade auch in Osteuropa. Das Problem ist, dass die Zeugen sterben und die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten oft in Frage gestellt wird.
WDR.de: Sie mussten im Prozess beweisen, dass der Angeklagte nicht bloß einen kleinen Rang bei der SS hatte, sondern Hauptscharführer war.
Maaß: Boere hat behauptet, er sei nie über den Dienstrang eines SS-Rottenführers hinaus gekommen. Das ist ein Rang, der dem eines Gefreiten in der Wehrmacht entsprach. Wir konnten aber ein Dokument aus den 50ern vorlegen, in dem er einen Antrag auf Erstattung erlittener Kriegsschäden stellt. Dort gibt er den Rang eines Hauptscharführers an. Das ist für einen jungen Mann ein sehr hoher Dienstgrad. Die Nebenkläger konnten zusätzlich Dokumente aus einem kleinen Archiv in den Niederlanden vorlegen. Dort waren Besoldungslisten aus der Zeit archiviert - und auch da wird Boere nach dem Rang eines Hauptscharführers besoldet. Die Ausrede, "ich war nur ein kleines Licht", zählt dann nicht mehr.
WDR.de: Sie müssen sich sehr gut mit der NS-Zeit auskennen, um einen solchen Prozess zu gewinnen. Wie sehr sind Sie mittlerweile zum Historiker geworden?
Maaß: Schon sehr. Irgendwann interessiert man sich auch privat dafür - auch wenn meine Schulnoten das nicht ausweisen. Wenn es ins Detail geht, dann sind wir aber auf die Hilfe von Sachverständigen angewiesen. Zeugen zu finden - das ist ganz schön schwierig. Im Fall Boere gibt es zum Beispiel nur einen einzigen lebenden Zeugen. Wir wissen auch, dass Boere untergetauchte Flüchtlinge ausspioniert und verraten hat ...
WDR.de: ... aber diese Taten sind längst verjährt. Sie müssen dem Angeklagten beweisen, dass er einen Mord begangen hat.
Maaß: Ein Mord-Merkmal ist Heimtücke, wenn die Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer bewusst ausgenutzt wird. Bei den Morden, die Boere zu Last gelegt werden, war es so, dass die Mitglieder des Mordkommandos "Silbertanne" zu den Opfern gefahren sind. Dann wurde nach dem Namen gefragt. Und schon wurde geschossen. Bei einem Opfer war die Frau anwesend. Deswegen wurde dem Mann gesagt, er müsse mit auf die Polizeistation kommen, damit seine Identität überprüft werden könne. Der hat gedacht, das sei eine reine Formsache. Und unterwegs wurde dann eine Autopanne vorgetäuscht, damit man den Mann von hinten erschießen konnte.
WDR.de: Oft haben die Täter jahrzehntelang ein unbehelligtes Leben geführt. Quält diese Menschen denn kein schlechtes Gewissen?
Maaß: Meiner Erfahrung nach berufen sich die Täter darauf, dass sie auf Befehl gehandelt haben. Sie fühlen kein Unrecht - genauso wie die Mauerschützen. Die haben nicht gesehen, dass es ein allgemeingültiges Menschenrecht gibt. Ich habe es noch nie erlebt, dass einer der von mir angeklagten NS-Täter Reue gezeigt hätte. Oft sagen die Täter: "Ja klar, ich war dabei, aber nur ein ganz kleines Licht." Das müssen wir widerlegen. Viele sagen: "Ich musste den Befehl ausführen." Aber das ist ein Mythos. Manchmal heißt es auch: "Das ist doch schon so lange vorbei, was wollt ihr denn noch?" Nur einmal hat ein Mann zu mir gesagt: "Ich bin so froh, dass Sie kommen, das lastet so schwer auf meinem Gewissen." Das war aber, als ich in einer anderen Abteilung gearbeitet habe.
WDR.de: Die Menschen, die Sie anklagen, haben unvorstellbare Verbrechen begangen. Haben Sie nachts manchmal Albträume?
Maaß: Man lebt in diesen Sachen. Es sind Details, die hängen bleiben. Aussagen von KZ-Überlebenden, die uns das tägliche Leben im Lager geschildert haben. Das sind so schreckliche Dinge, die würde man auch in keinem Film zeigen.
WDR.de: Gab es in Ihrer eigenen Familie auch Wehrmachtsangehörige? Wie sind Sie damit umgegangen?
Maaß: Doch klar. Mein Onkel war Fallschirmjäger. Ich konnte nie mit ihm persönlich über seine Erfahrungen sprechen. Mein Vater hat ein Kriegstagebuch geführt. Aber da steht nicht viel drin. Das waren beides Männer, die nicht viel erzählt haben. Mein Vater hat nur einmal berichtet, dass er fünf russische Panzer abgeschossen hätte. Und die Besatzung. Das zählt nicht als Kriegsverbrechen. Ich bin da nicht stolz drauf. Mir tun diese Typen leid. Viele sind absolut widerwillig zur Wehrmacht gegangen. Ich denke oft an die minus 30 Grad in Stalingrad, aber dann denke ich auch daran, wie Menschen in Güterwagen bei den gleichen Temperaturen ins KZ verschleppt wurden. Ich habe meinen Job dann gemacht, wenn die Verantwortlichen endlich bestraft werden.
Das Interview führte Katrin Schlusen.