Die DDR-Wissenschaftler kommen zu dunkler Stunde nach Toreschluss. Ihr Ziel: der Friedhof von Weimar. Genauer: das Grab von Johann Wolfgang von Goethe in der Fürstengruft. Ihr Auftrag: Störung seiner Totenruhe zwecks Leichenschau.
Am 2. November 1970 um 18.30 Uhr öffnet die Gruppe aus zwei Medizinern, einem Archäologen, drei Präparatoren und dem Direktor des Nationalmuseums Weimar Goethes Sarg. Da liegt der Körper von Deutschlands vielleicht größtem Dichter im Leichenhemd, mit eingefallenen Augen, das Gesicht unter dem Lorbeerkranz teils von Aaskäferlarven zerfressen. Eher surreal muten die Fotos an, die dabei entstehen: die einzigen Fotodokumente, die vom 1832 gestorbenen Dichterfürsten existieren.
Zu Stillschweigen ermahnt
Mit Leichenschändung hat die Aktion nichts zu tun. Es geht vielmehr um die postmortale Rettung eines Nationalheiligtums. Denn der einst wohl luftdicht verschlossene Sarg hat irgendwann, vielleicht bei seiner Evakuierung in den Kriegswirren 1944, Schaden genommen: Mit der einströmenden Luft begann die Verwesung. Im Sarg sei "ein beschleunigter Verfall des Leichnams zu befürchten", heißt es im entsprechenden Bericht.
Die nächtlichen Besucher kommen jedenfalls zu dem Schluss, dass als einzige Möglichkeit für eine würdige Behandlung der Überreste des Toten nur die "Mazeration" in Frage komme, also die chemische Reinigung des Skeletts von allem weichen Gewebe – wie bereits einige Jahre zuvor bei jener Leiche nebenan geschehen, die man damals noch für Schiller hält.
Mit Bürsten und Feinwaschmittel
Vor der vorübergehenden Ausbettung werden Goethes sterbliche Überreste vermessen: 166,5 Zentimeter vom Kopf bis zu der Ferse. Vier Stunden dauert die Prozedur, in deren Folge auch Haut- und Stofffetzen entfernt werden. Um halb zehn Uhr abends ist es vollbracht.
In der Restaurationswerkstatt des Weimarer Museums für Ur- und Frühgeschichte kommt der Dichterfürst in ein mit Desinfektionssubstanzen versetztes Warmwasserbad. Bürsten und Feinwaschmittel tun ihr Übriges. Dann folgen Bleichbad und Entschimmelung. Zugleich werden der Lorbeerkranz restauriert, jeder gefundene Fingernagel desinfiziert und der Sarg mit Holzschutzmittel behandelt. Das Totenhemd ist derweil zur Restaurierung gen Ost-Berlin unterwegs.
Wenige Wochen nach der Ausbettung werden die gebleichten Knochen in die Gruft zurückgebracht. Der Lorbeerkranz schmückt wieder den Schädel, die Fingernägel kommen in einem Glaszylinder dazu. Dann wird der Sarg verschlossen: ohne das Totenhemd, das nicht früh genug aus Ost-Berlin zurückgekommen ist.
Programmtipps:
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 2. November 2020 ebenfalls an Goethes Exhumierung. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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