An seinem "Faust" müht sich Johann Wolfgang von Goethe mit Unterbrechungen ein Leben lang ab. Dabei mag er sich mit dem Thema lange Zeit gar nicht mehr beschäftigen. "Ich bekümmere mich seit langer Zeit gar nicht mehr um das Theater“, schreibt der Weimarer Geheimrat dem Direktor des Herzoglichen Hoftheaters zu Braunschweig August Klingemann, der den 1805 fertig gestellten ersten Teil der Tragödie rund um den Teufelspakt aus Wissensdurst 1819 aufführen will. "Machen Sie daher mit meinem Faust, was Sie wollen."
Doch dann, nach 20 Jahren Abstinenz, packt Goethe das von ihm geschaffene Nationalheiligtum doch noch einmal an. Von 1825 bis 1831 erweitert er Skizzen und Notizen zu "der Tragödie zweiter Teil". Ein Jahr später stirbt er. Der "Faust II" kann erst posthum erscheinen.
Das Menschheitsdrama als Mysterienspiel
Lange Zeit gilt vor allem der zweite Teil des "Faust", allein schon wegen der mannigfachen Spielorte, als technisch unaufführbar und wird deshalb als Lesedrama verstanden. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts dann wagt sich der renommierte Schauspieler und Regisseur Otto Devrient an das scheinbar Unmögliche. Und nicht nur das: Sein Plan ist es, beide Teile gemeinsam am Weimarer Hoftheater auf die Bühne zu bringen. Für die Gesamtaufführung wählt Devrient einen geschichtsträchtigen Termin: Die Säkularfeier der Ankunft Goethes am Hof des 18-jährigen Herzogs Karl August von Weimar, als dessen Berater er ab 1776 tätig war.
Das Vorhaben gelingt: Am 6. Mai 1876 startet die Aufführung von Faust I und II "in zwei Tagewerken" in einer von Devrient bearbeiteten Fassung mit der Musik von Eduard Lassen am Hoftheater Weimar. Technische Herausforderungen löst Devrient, indem er Goethes zur Menschheitsparabel geweitete Tragödie auf einem Bühnenraum inszeniert, der dem mittelalterlichen Mysterienspiel nachempfunden ist: Auf drei Etagen, die hintereinander emporsteigen, können selbst Erdbeben, Feuerschlünde und Wasserfälle im steten Wechsel gezeigt werden. In der auf sechs Stunden angelegten Inszenierung gibt Devrient selbst den Mephistopheles – eine gigantische Doppelleistung als Regisseur und Schauspieler.
20 Meter hohe "Faust-Stadt"
Publikum und Kritik sind begeistert. Devrients später auch gedruckte Fassung vermöge "mit einem Schlage die Schwierigkeiten des Verständnisses beseitigen", heißt es in einer Besprechung. "Leute aus dem Volke, Frauen, welche beim Lesen des Stückes nicht über die ersten Seiten hinaus gelangen konnten, fühlten sich gefesselt und bewegt von der Anschaulichkeit und Bildlichkeit der Szenen, von der Eindringlichkeit, dem Witz und der Weisheit, der Kraft und der Klarheit des Worts." Immer wieder werden die Schauspieler vor den Vorhang gerufen.
Der Erfolg spornt Devrient an, seine Inszenierung später auch in Berlin, Köln und Düsseldorf zu zeigen. Für Regie-Generationen nach ihm bleibt die Gesamtaufführung trotzdem eine Herausforderung. 1909 nutzt Max Reinhardt die neu erfundene Drehbühne am Deutschen Theater in Berlin zu einer achtstündigen Gesamtaufführung. Für seine Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 1933 entsteht eine 20 Meter hohe "Faust-Stadt", deren Ebenen mit Gängen und Treppen verbunden sind. Fünf Jahre später bringt Rudolf Steiners Witwe Marie den ungekürzten Doppel-Faust in anthroposophisch-weihevoller Manier in sieben Tagen im Goetheanum von Dornach zur Aufführung. Die erste ungekürzte Gesamtaufführung durch Berufsschauspieler liefert Peter Stein im Jahr 2000 anlässlich der Expo in Berlin.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.