Eigentlich soll aus dem Stoff ein Film werden. Weil das 1969 entstandene Skript in der DDR aber nicht genehmigt wird, macht sein Autor Ulrich Plenzdorf ein Theaterstück daraus: "Die neuen Leiden des jungen W." Die Hauptfigur Edgar Wibeau ist ein 18-jähriger Lehrling, der seine Lehre abbricht, weil er als Sohn der Betriebsleiterin immer den braven Jungen spielen muss. Er setzt sich aus der Provinz nach Berlin ab und versteckt sich dort auf einem Abrissgelände in einer Laube.
Im Plumpsklo seiner Laube findet Wibeau eine Reclam-Ausgabe von Johann Wolfgang Goethes Werther. Er verliebt sich in eine bereits vergebene Kindergärtnerin, die er nach dem Vorbild von Werthers Charlotte "Charlie" nennt. Ihr zuliebe arbeitet er auf dem Bau. Von seinen Kollegen aus der Malerbrigade lässt er sich von deren Idee anstecken, ein "nebelfreies Farbspritzgerät" zu konstruieren. Als Wibeau in seiner Laube die Erfindung alleine vorantreiben will, stirbt er versehentlich an einem Stromschlag.
"Mit Pulver voll"
Das Filmskript hat die DEFA abgelehnt, weil Plenzdorf seinen Frust über die zunehmende Zensur, die Zwänge und die Kleinkariertheit in der DDR hineingeschrieben hat. Als Sohn überzeugter Kommunisten war er mit seinen Eltern 1950 vom Westteil Berlins in den Osten gezogen. Doch inzwischen empfindet er nur noch ein großes Unbehagen: "Ich war mit Pulver bis über die Ohren voll von einer Zeit, die geprägt war von Gängelei."
Als Erich Honecker 1971 die Macht übernimmt, setzt in der DDR eine kurze Tauwetter-Phase ein: "Dann sagte Honecker solche Sätze wie: 'Es darf keine Tabus mehr geben - wenn man vom sozialistischen Standpunkt ausgeht'", erinnert sich Plenzdorf später. Aus seiner Sicht haben die Unzufriedenen diesen Nachsatz verdrängt und sich stattdessen an den Tabu-Satz geklammert. Im März 1972 kann Plenzdorf seinen Werther in der Literaturzeitschrift "Sinn und Form" veröffentlichen. Kurz darauf wird am 18. Mai 1972 die Theaterfassung in Halle uraufgeführt - und ein sensationeller Erfolg.
Erfolg in Ost und West
Auch auf der anderen Seite der Mauer ist das Stück erfolgreich: "Die neuen Leiden des jungen W." avanciert in den folgenden zwei Jahren zum meistgespielten Werk auf ost- und westdeutschen Bühnen. Das Buch, das 1973 erscheint, wird zum Millionen-Bestseller und macht Plenzdorf weltberühmt.
Für Plenzdorf sind die meisten Inszenierungen seines Stücks allerdings zu harmlos. Seine eigenen Vorstellungen kann er erst in der Verfilmung von Eberhard Itzenplitz verwirklichen, die 1976 gedreht wird - in der Bundesrepublik.
Stand: 18.05.2012
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