Als die frisch gekürten brasilianischen Fußball-Weltmeister nach dem Schlusspfiff überglücklich eine Ehrenrunde durch das Stockholmer Stadion drehen, applaudieren die schwedischen Zuschauer begeistert.
Zwar haben die Südamerikaner gerade das schwedische Team um den Titel gebracht. Aber die Gastgeber müssen anerkennen: So wie die Brasilianer hat in den vergangenen Wochen niemand bei der Fußball-Weltmeisterschaft den Ball beherrscht.
Erneute Schmach muss verhindert werden
Dabei sieht es am 29. Juni 1958 zunächst schlecht aus für die Südamerikaner. Die Gastgeber gehen fünf Minuten nach Anpfiff in Führung. Sollte den Brasilianern eine erneute Schmach wie 1950 bevorstehen, als die Seleção den WM-Titel im heimischen Maracanã-Stadion ausgerechnet gegen Uruguay verspielte?
Doch die Brasilianer drehen auf und erzielen schon drei Minuten später den Ausgleich. Ab jetzt spielt Dribbel-König Garrincha die Schweden schwindelig und der gerade einmal 17 Jahre alte Pelé führt seinen Gegnern Tricks vor, die sie noch nie gesehen habe. Der spätere "Welt-Fußballer des Jahrhunderts" schießt selbst zwei Tore, seine Ära beginnt hier in Stockholm.
Modernes Spielsystem mit Ausnahmetalenten
Die Ausnahmetalente Garrincha, Pelé und Didi sowie Torwart Gilmar zelebrieren ein Spiel, das seiner Zeit weit voraus ist. "Flachpassfußball, mit schnellem Passspiel, Ballbesitzfußball, so wie ihn heute eigentlich die guten Teams immer noch spielen", erklärt Christian Eichler, Sportredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das brasilianische Spielsystem.
Das resultiert auch aus der politischen Tragödie in Ungarn zwei Jahre zuvor: Die nach dem Volksaufstand geflüchteten Exil-Fußballer gehen mit Landsmann und Trainer Béla Guttmann auf Tournee durch Südamerika. Guttmann bleibt danach im Land und lehrt dort das ungarische 4-2-4-Spiel. Das schnelle und variable System ist maßgeschneidert für die angriffsverliebte Fußballkultur der Südamerikaner, findet auch Nationaltrainer Vicente Feola.
Vom Außenseiter zum Rekord-Weltmeister
Davon bekommen die Europäer jedoch nichts mit. Brasilien geht als Außenseiter ins Turnier und wird überraschend mit einem 5:2 gegen Gastgeber Schweden zum ersten Mal Fußball-Weltmeister. Und alle Welt bewundert das brasilianische "jogo bonito" - das schöne Spiel.
"Ich sehe nun eine ganze Weile schon Fußball, aber solche Fußballvollendung habe ich noch nicht gesehen" , schwärmt Radio-Reporter Herbert Zimmermann. Brasilien feiert die Spieler wie Erlöser, die Schmach von 1950 ist endlich überwunden.
Seither zählen die brasilianischen Ball-Zauberer bei jeder Fußball-Weltmeisterschaft zu den Favoriten. Immerhin fünf Mal, so oft wie keine andere Nation, kehrten sie bislang als Sieger zurück.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 29. Juni 2018 ebenfalls an den Fußballweltmeister Brasilien. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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