Immer am letzten Tag im Februar ist der Tag der seltenen Erkrankungen, von denen es laut Professor Martin Mücke 6.000 bis 8.000 gibt - jährlich werden rund 250 neue entdeckt. Mücke leitet das Zentrum für Seltene Erkrankungen der Uniklinik Aachen und ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Zentren für Seltene Erkrankungen.
Der jährliche Anstieg spiegele vor allem den medizinischen Fortschritt in der Genetik und Diagnostik wider, erklärt Mücke: "Moderne Sequenzierungstechnologien, bessere bioinformatische Analyseverfahren und internationale Datenbanken tragen dazu bei, bislang unerkannte Erkrankungen zu entdecken."
Zudem führten verfeinerte Krankheitsdefinitionen, eine erhöhte Sensibilisierung in der Medizin sowie die bessere interdisziplinäre Vernetzung dazu, dass seltene Krankheiten genauer "klassifiziert" würden.
Rund 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt
"Selten" heißt im Fall von Erkrankungen, dass weniger als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Zwischen 75 und 80 Prozent dieser Menschen leiden unter Symptomen, die genetisch bedingt sind. Die übrigen 20 bis 25 Prozent umfassen seltene parasitäre Erkrankungen, Tumor- und Autoimmunerkrankungen oder Vergiftungen. Es gäbe auch seltene psychische Erkrankungen.
Dank fortschrittlicher Diagnostik entdecken wir immer mehr seltene Erkrankungen. Martin Mücke
Ein Beispiel für die bessere Diagnostik und präzisere Unterscheidungen sei Diabetes mellitus, die Erkrankung des Stoffwechsels, die sie zu erhöhten Blutzuckerwerten führt. Sie werde längst nicht mehr nur in die Kategorien Typ 1 und Typ 2 unterteilt: "Neben diesen Hauptformen existieren zahlreiche seltene Varianten, darunter monogenetische Diabetesformen wie MODY - Maturity Onset Diabetes of the Young - mit mindestens 14 bekannten Subtypen." Diese Differenzierung trage zu einer gezielteren Therapie und einem besseren Verständnis der Erkrankung bei.
Interview zum Tag der Seltenen Erkrankungen. WDR Studios NRW. 28.02.2025. 06:44 Min.. Verfügbar bis 28.02.2027. WDR Online.
Bessere Diagnose heißt nicht gleich bessere Therapie
Eine bessere Therapie oder gar Heilung erfolgt aus neuen Erkenntnissen nicht zwingend: "Man kann nur wenig seltene Erkrankungen behandeln, und genetische Therapien sind sehr teuer", sagt Mücke. Er verweist beispielsweise auf die Spinraza-Therapie, mit der ein genetisch bedingter Muskelschwund behandelt wird und die mehr als 300.000 Euro im Jahr kosten könne.
Wenn die Ursachen einer seltenen Erkrankung besser verstanden werden – wie im Fall der spinalen Muskelatrophie (SMA) –, könne dies neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen: "Dadurch lassen sich Krankheitsverläufe zumindest verlangsamen und Symptome lindern", erklärt Mücke. In einigen Fällen ermöglichen Enzymersatztherapien eine deutliche Verbesserung der Symptome, eine vollständige Heilung ist jedoch selten.
Beispiel Morbus Fabry: Frühe Erkennung sehr wichtig
Ein Beispiel sei Morbus Fabry, eine genetisch bedingte, fortschreitende Multiorganerkrankung, die unter anderem das Herz, die Nieren und das Nervensystem betrifft. Eine regelmäßige Enzymersatztherapie könne den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und Betroffenen ein nahezu normales Leben ermöglichen, wenn die Erkrankung früh erkannt wird.
Unbehandelt könne Morbus Fabry jedoch die Lebenserwartung deutlich senken. Ein mögliches frühes Anzeichen der Erkrankung sei eine verringerte oder fehlende Schweißproduktion.
Bis zur richtigen Diagnose vergehen oft viele Jahre
Wie bei allen Erkrankungen sei auch bei seltenen Krankheiten eine frühzeitige Diagnosestellung entscheidend. "Bei genetisch bedingten Erkrankungen wäre es ideal, sie bereits im Säuglingsalter im Rahmen der U-Untersuchungen zu erkennen", sagt Martin Mücke.
Doch genau hier gebe es noch große Lücken: "In einer eigenen Studie habe ich herausgefunden, dass die Diagnosesuche bei Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung im Durchschnitt zwischen fünf und siebeneinhalb Jahren dauert."
Wenn du Hufgetrappel hörst, denke an Pferde – manchmal sind es auch Zebras, also seltene Erkrankungen, die hinter den Symptomen stecken. Martin Mücke über eine neue Regel in der Medizin
Das müsse sich ändern, um Menschen effizienter helfen zu können. In den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte Professor Theodore Woodward (USA) in der medizinischen Diagnostik den Spruch "Wenn du Hufschläge hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras". Das habe sich laut Mücke längst geändert. Mittlerweile lehre man die Studenten, dass sie auch an "Zebras" - also das Unwahrscheinlichere - denken sollten, um seltene Erkrankungen schneller zu entdecken.
Hausärzte haben kaum Zeit für "Drehtür-Patienten"
Dies sei schon deswegen wichtig, weil keine oder im schlimmsten Fall falsche Diagnosen bei der Behandlung eines Patienten fatale Folgen haben könnten. Dass seltene Erkrankungen zu spät entdeckt würden, liege unter anderem an der engen Taktung bei Hausärzten, die im Schnitt weniger als acht Minuten Zeit für einen Patienten hätten.
Da wäre für "Drehtür-Patienten", die mit Aktenstapeln über die vergebliche Diagnose-Suche in die Sprechstunde kommen, keine Zeit. Dieses Problem werde sich in den kommenden Jahren, wenn immer mehr Haus- und Fachärzte in den Ruhestand gehen, verschärfen.
Seltene Erkrankungen sind für Ärzte schwer zuzuordnen
"Drehtür-Patienten – also Menschen mit einer seltenen Erkrankung, die lange ohne eindeutige Diagnose bleiben – werden häufig von sieben bis acht verschiedenen Fachärzten gesehen, bevor sie an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden", sagt Martin Mücke. Dabei vergehe oft viel wertvolle Zeit – Zeit, die für eine frühzeitige Behandlung entscheidend sein könne.
Den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten dafür die Schuld zu geben, wäre jedoch nicht gerechtfertigt: "Seltene Erkrankungen betreffen häufig mehrere Organsysteme und lassen sich schwer einer einzelnen Fachrichtung zuordnen." Genau deshalb gebe es in NRW inzwischen sieben "Zentren für Seltene Erkrankungen" - in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Köln, Münster, Essen und Bochum. Diese würden seit vergangenem Jahr auch "endlich" durch Zuschläge der Krankenkassen finanziell unterstützt: "Ohne diesen spezialisierten Ansatz wären viele Diagnosen weiterhin kaum zu stellen."
Zentren für Seltene Erkrankungen können helfen
Mücke rät Betroffenen, die nach mehreren erfolglosen Diagnoserunden unter ungeklärten Beschwerden leiden, sich von ihrem Arzt an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) überweisen zu lassen. Sollte eine Überweisung nicht möglich sein, bedeute dies nicht, dass sie keine Anlaufstelle hätten: "In den ZSE bemühen wir uns, Patientinnen und Patienten mit unklaren Krankheitsbildern weiterzuhelfen", sagt Mücke.
Die seltenen Erkrankungen sind in Summe wie eine "Volkskrankheit". Allein in NRW sind nach Angaben des Netzwerks NRW-ZSE rund 900.000 Menschen betroffen. Schätzungen zufolge sind es in ganz Deutschland laut Bundesgesundheitsministerium vier Millionen Menschen, und in der gesamten EU gehe man von 30 Millionen Betroffenen aus.
Unsere Quellen:
- Gespräch mit Professor Martin Mücke
- Netzwerk NRW-ZSE
- SE-Atlas - Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen
- Bundesministerium für Gesundheit