14. Oktober 1867 - Epilepsie-Zentrum Bethel in Bielefeld gegründet

Stand: 14.10.2017, 00:00 Uhr

Henning Kuhlmann blickt auf sein eigenes Gehirn wie auf eine Landkarte. Bei einer Operation haben ihm Ärzte den Teil seines Gehirns entfernt, das seine epileptischen Anfälle auslöste. Zuvor musste er in einem MRT-Gerät sprachliche Aufgaben bewältigen: Die Ärzte wollten ausschließen, dass sie beim Operieren sein Sprachzentrum verletzen.

Von-Bodelschwinghsche-Anstalten Bethel gegründet (am 14.10.1867) WDR Zeitzeichen 14.10.2017 14:49 Min. Verfügbar bis 12.10.2027 WDR 5

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Als am 14. Oktober 1867 die ersten Patienten die "Rheinisch-Westfälische Anstalt für Epileptische" beziehen, ist an solche Operationen nicht zu denken. "Vor 150 Jahren gab es ein einziges Medikament gegen Epilepsie: Brom, eine Substanz, die schwere Nebenwirkungen hatte. Die Anstalt wurde gegründet, um unheilbar kranken Epilepsiepatienten die Möglichkeit zu geben, an einem sinnvollen Leben teilzuhaben", sagt Christian Bien, Chefarzt des heutigen Epilepsie-Zentrums Bethel.

Die Bodelschwinghs verlieren vier Kinder

Die Anstalt wächst schnell. Erst recht, als ihr heutiger Namensgeber Friedrich von Bodelschwingh 1872 die Leitung übernimmt. Pastor Bodelschwinghs Wechsel von Dellwig bei Unna nach Bielefeld ist eine Flucht. "Ihm waren im Januar 1869 vier Kinder gestorben. Von einer sechsköpfigen Familie war ein verwaistes Elternpaar zurückgeblieben", sagt Matthias Benad, Professor für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.

Friedrich von Bodelschwingh schreibt an seine Mutter: "Meine teure Mutter, gestern Abend um 11 Uhr hat unser lieber kleiner Friedrich auf dem Schoß seiner Mutter sein Köpfchen sehr sanft in den Schlaf geneigt. Keinen Klageton und keinen Schmerzenslaut hat das liebe Kind von sich gegeben. Das ist freundlich vom Herrn." Die drei Geschwister sterben alle innerhalb von zwei Wochen, vermutlich an Keuchhusten.

"Gemütskranke" in Spezialeinrichtungen

Bodelschwingh stürzt sich in die neue Arbeit und nennt die Einrichtung fortan Bethel, hebräisch für Haus Gottes. Er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort – und hier bekommen er und seine Frau Ida vier weitere Kinder.

"Wir befinden uns in der Phase der Hochindustrialisierung. Menschen, die Epilepsie haben, kommen schlecht weg. Es gibt niemanden mehr, der sich um sie kümmern kann. Die Leute wandern weg zu den Industriebetrieben, da regiert die Uhr", erklärt Matthias Benad. Und all die Menschen, die damals Krüppel heißen, Irre oder Gemütskranke, werden in Spezialeinrichtungen wie die in Bethel gebracht.

Versorgt wird die wachsende Zahl der Hilfebedürftigen von Diakonen und Diakonissen, die Bodelschwingh nach Bielefeld holt. Anfangs ist in Bethel nur ein einziger Arzt im Nebenamt tätig. Bodelschwingh ist überzeugt, den Patienten gehe es besser, "je weniger der leibliche Arzt seine medizinischen Mittel bei den Gemütskranken anwendet".

Zwangssterilisierung auch in Bethel

1910 übernimmt Bodelschwinghs jüngster Sohn Friedrich die Geschäfte. Die von den Nationalsozialisten verordnete Zwangssterilisierung von Frauen und Männern tragen Bodelschwingh und die verantwortlichen Ärzte in Bethel voll mit. Dorothea Buck ist eine von über tausend Opfern in Bethel. "Schwester Betha hatte mir die Schamhaare abrasiert und ich fragte wozu? Da sagte sie: Für einen notwendigen kleinen Eingriff. Das war die Aufklärung", erinnert sie sich.

Als Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere Anfang 1940 klar wird, dass Hitler per Geheimbefehl psychisch Kranke und Behinderte töten lässt, versucht er, die Insassen von Bethel zu schützen. Er zögert das Ausfüllen von Meldebögen über den Gesundheitszustand der Patienten hinaus. Zudem wendet er sich an Hitlers Leibarzt, einen der Verantwortlichen der geheimen Tötungsaktion T4. Er versucht ihn zu überzeugen, dass ein großer Abtransport von Kranken zu Unruhe in der Bevölkerung führen würde.

Trotzdem: "Wir wissen, dass Patienten ausgeliefert worden sind: die jüdischen Patienten", sagt Matthias Benat.

Betreuung immer häufiger in Wohngruppen

Heute werden in den Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, wie sie offiziell heißen, jährlich rund 150.000 Menschen behandelt, weitergebildet und betreut. Darunter sind Behinderte, psychisch Kranke, alte Menschen und Sterbende.

Das geschieht immer seltener in einer Einrichtung und immer häufiger in Wohngruppen oder der eigenen Wohnung. Manche, wie Henning Kuhlmann, können Bethel irgendwann verlassen. Vieles spricht dafür, dass er nach seiner Operation keine Anfälle mehr bekommen wird. Seine Freundin und er freuen sich auf ihr erstes Kind.

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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 14. Oktober 2017 ebenfalls an die Epileptiker-Anstalt. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.

Stichtag am 15.10.2017: Vor 200 Jahren: Todestag des polnischen Freiheitshelden Tadeusz Kościuszko