Lesefrüchte

"Zu Lieben" von Ulrike Draesner

Stand: 02.10.2024, 13:27 Uhr

Formvollendetes Life-Writing: In ihrem persönlichsten Buch erzählt Ulrike Draesner die berührende Geschichte, wie sie durch eine Auslandsadoption Mutter wurde.

Die Bezeichnung "Roman" auf dem Deckblatt ist durchgestrichen. Denn in diesem Buch hat sich "alles mehr oder minder" so zugetragen. In "zu lieben" poetisiert Ulrike Draesner Lebenserfahrungen, die essenzieller und intimer nicht sein könnten. Nach ungewollter Kinderlosigkeit erfährt die Schriftstellerin, dass in einem Kinderheim im fernen Sri Lanka eine Dreijährige lebt, die ihre (Adoptiv)-tochter werden könnte.

Nach einer Reihe von Fehlgeburten hatte sich das Paar rund um die Vierzig für eine Auslandsadoption entschieden und dafür einiges an Überprüfungen und Befragungen über sich ergehen lassen. Nun soll es also so weit sein. Die Schriftstellerin erkennt, dass sie sich vor dem, was sie am meisten ersehnt hat, auch am meisten fürchtet: Vor dem Kind. Vor dem Kind, das ihnen ein paar Zweifel, Hindernisse und schrecklichem Flug später in einem unbehaglichen Kinderheim in Colombo vorgeführt wird. Das Paar steht unter Druck. Es hat nur wenige Wochen Zeit, die „future daughter“ gut genug kennenzulernen. Beim alles entscheidenden Gerichtstermin werden die Eltern einen einheimischen Richter davon überzeugen müssen, dass sie eine Bindung zum Kind aufgebaut haben. Sonst dürfen sie es nicht mitnehmen.

Ulrike Draesner ist dafür bekannt, dass sie Tabus und Sehnsüchte des 21. Jahrhunderts in Sprache übersetzt. In
"zu lieben" wächst sie über sich hinaus, wenn sie für die Geschichte der eigenen Familie und damit für alle mitschwingenden Aspekte einer Auslandsadoption eine Form findet. Es gilt, zwischen ihrem erinnernden Ich, also der intellektuellen Schriftstellerin, Mutter mit Tochter und ihrem alten erlebenden Ich, der verletzlichen Frau ohne Kind, zu trennen. Und dann die Frage an die Tochter, darf ich das alles erzählen? Ja, sie darf. Ein Glück für die Welt.

Es ist die Geschichte einer beeindruckenden, aber mehr als schwierigen Annäherung zwischen Welten. Auf der einen Seite die Behörden und das Kinderheim einer postkolonialen Gesellschaft des globalen Südens, auf der anderen Seite die hoffenden Möchtegern-Eltern, die den reichen Norden präsentieren. Hier die entschlossene Frau, dort die Dreijährige, die das Kinderheim in ihrer Seele trägt.

Wieder einmal beweist Draesner, dass Literatur Perspektivenwechsel ermöglicht und Verständnis erzeugt. Die Rezensentin bleibt in Ehrfurcht zurück. Ehrfurcht vor dem entschlossenen Menschen, dem es gelungen ist, auszuhalten, sich in das fremde Wesen hineinzuversetzen und immer wieder die Brücke zu Tochter Mary zu schlagen. Und vor der Schriftstellerin, die die Bilder und literarische Form gefunden hat, die Erfahrung einer Auslandsadoption in allen Facetten zu vermitteln.

Literaturangaben:
Ulrike Draesner: zu lieben
Penguin, 2024
352 Seiten, 24 Euro